Zwei Probleme sind so alt wie das Nachdenken der Menschen über sich
selbst. Meine Wahrnehmungen von der Welt und die Wahrnehmungen anderer
können so verschieden sein, dass Konflikte unausweichlich werden. Aber auch
in meinem eigenen Inneren bin ich nicht dauerhaft in Frieden, sondern immer
wieder Spannungen und Disharmonien ausgesetzt.
Zwei verschiedene Formen von Gewissheit prägen unser Verhältnis zur Welt:
Die eine ergibt sich aus der Beobachtung der Außenwelt, die wir als
Objektwelt nach objektiven Maßstäben erfassen und beschreiben können; die
andere, die Gewissheit der Innenwelt, formuliert sich, wenn wir über unsere
Alltagserfahrungen und unsere Vorstellungswelten sprechen. Die methodische
Vermittlung der beiden Gewissheiten bildet seit langem eines der
Hauptprobleme abendländischer Philosophie. Hier entfaltet Dietrich Krusche,
in Zusammenschau neuer Erkenntnisse aus Sprachpragmatik, Neurophysiologie
und Philosophie, einen neuartigen Ansatz. In den Mittelpunkt des Interesses
rückt dabei ein bisher wenig beachteter, der Gestik verwandter Sprechakt:
die Orientierung im Wahrnehmungsraum, den Sprecher und Adressat gemeinsam
haben. Der Bezugspunkt des sprachlichen Orientierungshandelns besteht aus
der Wortgruppe ich jetzt hier. In der ‚ersten Person‘, ich,
fallen dabei die Instanz des Wahrnehmenden und die soziale Rolle des
Sprechers und Mitspielers zusammen.
Diese Schrift will den Leser nicht nur informieren, sondern sie fordert ihn
auf, bestimmte ‚Sprachverhalte‘ – unter seinen je besonderen
Anwendungsbedingungen – (mit)zuvollziehen und selbst die Positionalität des
ich zu aktivieren. In der Zumutung an den Leser, selbst tätig
zu werden, liegt etwas Provokatives.
Aus solcher Sprachbetrachtung erwächst schließlich eine überraschende
Erkenntnis: Gerade angesichts der heutigen weltumspannenden Krisen und der
Notwendigkeit der globalen Verständigung über ein gemeinsames Handeln, das
alle soziokulturellen Grenzen überwinden müsste, erweist die Entfaltung des
Ich-Programms ihre praktische Relevanz.
INHALT
Zur Einführung
Ein Befund der Hirnphysiologie und ein sprachliches Programm – „ich“ und
„mein Ich“ – Sprachliche Orientierung in Raum und Zeit – außen/innen – Ästhetik
und Selbsterfahrung – Das Thema der perspektivierten Wahrnehmung und die Anlage
des Ganzen – Die Textsorte und die Adressaten dieses Buches
Teil I Orientierung und Sprache
Kapitel 1
Der Sprechakt der Orientierung
Was bewirkt Orientierung? – Wie realisiere ich den ,Bezugspunkt in mir‘? –
Vorläufige Übersicht – Umfang und Abgrenzbarkeit der Wortgruppe – Die
Oppositionsstruktur – Ein Sonderfall: die Opposition innen/außen – Die Dynamik
der Orientierung und die ,Symmetrie‘ zwischen Sprecher und Adressat – Die Origo
und der Rundum-Raum – Die Überschüssigkeit (Redundanz) der Origo
Kapitel 2
jetzt-hier/innen-außen – die Koordinaten der Meditation
Meditation und Wahrnehmung – Meditation und Sprache – Meditation im
Frühbuddhismus – Meditation im christlichen Mittelalter: die
Nähe-Ferne-Komplikation im Gottesbegriff – Therapeutische Entspannungsübungen –
Das Angebot des Zen
Kapitel 3
Orientierung in Textwelten
Zwei textliche Anschaulichkeiten – Wie kommt der Leser in den Text? –
Zwei Aktivitäten des Lesers: Decodieren und Re-Imaginieren – Zwei
Schreibtemperamente, zwei Lesetemperamente – Die Abstinenz der
Literaturwissenschaft
Teil II Von ich zum Ich: Die Verschiebung der Origo
Kapitel 4
Sinnliche Wahrnehmung und vorstellendes Bewusstsein
Bezugspunkt bewegt – Die ,Parteilichkeit‘ des Zuschauers beim Kampfspiel
– Imaginatives Lernen – Das ,mobile‘ Telefonieren und die Teilung des
Gesprächsraums – Die Verdopplung der Origo im Wachtraum – (Wirklich) gelebtes
und (probeweise) fingiertes Leben – Die Entkopplung der Vorstellungswelt vom
Raum-Zeit-Kontinuum – Das Nicht-Vorwegnehmbare: das Aufhören (Wegbleiben) von
,ich‘ – Der geteilte Fokus: Die Welt ,unter Gott‘ – Zur Evolution des Mitgefühls
Kapitel 5
Erfahrung, Vorerfahrung und vernünftige Erkenntnis
Karl Bühler: Die drei ‚Marken‘ der Wahrnehmung – Die Verarbeitung von
Wahrnehmung in der Beschreibungssprache der Hirnforschung heute – Das Problem
der objektiven Erkenntnis – Wo im Körper ist ,ich‘? Ein neurophysiologisches
Experiment – Tier und Menschentier: objektbezogene und subjektbezogene
Orientierung – Die Fabel vom Hund mit der Zeigepfote
Kapitel 6
Das Ich-Problem
Montaignes Entdeckung – Freuds Modell des problematischen Ich – Gestörte
,Beziehungen‘ im Ich – Die Verschiebung der Origo ins Innere – Die
geschichtliche Dimension: Von ,ich‘ zum ,Ich‘ – Romantik: eine Ich-besessene
Epoche – Die Bühne des Ich: die Akteure und der Zuschauer – Orientierung und
Entscheidung – Das Lob der kleinen Entscheidung – Zur Kulturgeschichte der
Gehirntätigkeit
Teil III Orientierung und Verständigung
Kapitel 7
Sprechen über mich selbst
Was tue ich, wenn ich sage: „ich selbst“? – Mein Adressat und ich – Das
Tagebuch: Intimität und Intimitätsbruch – Die Autobiographie: Erzählen von etwas
und Erzählen von sich selbst – Die Semantik der Erinnerung – Wiederholtes
Erzählen: Die Suche nach dem Sinn des Erlebten – „Die ergreifende Geschichte von
Hindelang“ – Dialogisches im Selbstgespräch – Das Gebet als Dialograhmen
Kapitel 8
Sprechen über andere
Jemanden verstehen, kennen, missverstehen – Verständigung: Notwendigkeit,
Glück, Risiko – Die Einmischungen von Ich – Trennungslinien, Begegnungslinien –
Die verführerische Deutlichkeit des Gegenüber – Anderswo, nirgendwo und der
Begriff der ,Fremde‘
Kapitel 9
Sprechen über die gemeinsame Welt
Eine Panne im Wissenschaftsbetrieb – Die Bearbeitung des „externen
Realismus“ – Die ,kulturelle Objektivation‘ (der Text) als Gegenstand des
Verstehens – Eine methodische Einbeziehung von Ich? – Geäußerte Leseerfahrung
und nicht-geäußerte Selbstreflexion – Wissenschaft und Gesellschaft:
Geltungsbedürfnis und Angst
Kapitel 10
Inhaltsethik und Beziehungsethik – zur Geschichte der Selbstzuständigkeit
Umweltverbrauch: Das Menschheitsthema heute und die Verständigung darüber –
Globale Bekehrung? – Die historische Hypothek: Kolonialismus – Die fertige
Wahrheit und die Wahrheit, die durch Selbsterfahrung zu realisieren ist:
Konfuzius und Buddha – Die weitere Spur: Sokrates, Jesus von Nazareth – Und
weiter: die Entstehung der Menschenrechte aus der Kolonialismuskritik –
Blockaden heute – Öffnungen heute
Anhang: Textwelten und die Orientierung darin
A. Das Nähe-Ferne-Verhältnis
Aneignungsphantasien, Friedrich Nietzsche: „Nach neuen Meeren“ – Missbehagen
an der Geschichte, Stefan George: „Die tote Stadt“ – Geteilte Nähe: die
Anredegedichte des Horaz – Wiederholung als ästhetisches Prinzip
B. Die Schärfung der Origo in der Literaturentwicklung
Zur Vorgeschichte: Odysseus, der erste Held, der ,ich‘ sagt – Ein
Paradigmawechsel: Von der Ich-Entfaltung zur Selbsterfahrung – Der
monozentrische Text – Die Aspektfigur und das Textganze – Der absolute Anfang,
Franz Kafka: Der Prozeß – Die allmähliche Gewöhnung des Lesers an die
Aspektfigur, Thomas Mann, Der Zauberberg – Die Aspektfigur als Vexierbild:
Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten (Les Bienveillantes)
C. Die Einseitigkeit der Geschlechtserfahrung
Goethes Ballade „Der Fischer“: eine „Naturballade“? – Die Figurendarstellung
– Ein Perspektive-Wechsel und seine Deutungsrelevanz
Nachbemerkung
Anmerkungen und Stellennachweise
Personenregister
Dietrich KRUSCHE, geboren 1935 in Polen, war Lehrer an einem Münchner
Gymnasium und Lektor für Deutsch an der University of Sri Lanka sowie an der
Universität Okayama/Japan. Von 1982 bis 1997 war er Professor für
interkulturelle Hermeneutik an der Universität München. Seitdem lebt er in
Südfrankreich.
Zur Einführung
Ein Befund der Hirnphysiologie und ein sprachliches Programm
Zwei Probleme sind so alt wie das Nachdenken der Menschen über sich selbst.
Meine Wahrnehmungen von der Welt und die Wahrnehmungen anderer können so
verschieden sein, dass Konflikte unausweichlich werden. Aber auch in meinem
eigenen Inneren bin ich nicht dauerhaft in Frieden, sondern immer wieder
Spannungen und Disharmonien ausgesetzt.
Zur Klärung beider Probleme hat die Wissenschaft des menschlichen Gehirns in den
letzten Jahrzehnten entscheidend beigetragen, indem sie zeigen konnte, was es in
unserem Gehirn nicht gibt: eine Instanz, von der alle äußeren und inneren
Wahrnehmungen zusammengeführt und kontrolliert werden – es gibt keinen
„Beobachter im Gehirn“. Keine Hirnregion lässt sich ausmachen, in der
widersprüchliche Erfahrungen abgeglichen, Konflikte entschieden und ethisch
bedeutungsvolle Entscheidungen getroffen werden.
Trotzdem leistet unser Gehirn etwas, das – in unserer Selbsterfahrung – eben
diesen Leistungen entspricht. Offenbar hat es im Laufe seiner Evolution die
Fähigkeit erworben, so viele verschiedene Aktivitäten gleichzeitig und
konzertiert auszuführen, dass wir uns – und sei es auch nur vorübergehend – als
Einheit, unser Leben als sinnvoll und unsere Entscheidungen als ,frei‘ erfahren
können.
Diese Schrift versucht, das Programm der Konfigurierung von Wahrnehmung anhand
einer – der Gestik verwandten – Art der Sprachverwendung zu entfalten. In den
Mittelpunkt des Interesses rückt dabei der bisher wenig beachtete Sprechakt der
Orientierung im Wahrnehmungsraum, den Sprecher und Adressat gleichzeitig
überblicken. Die Herausbildung dieses Sprechakts folgt dem Interesse, möglichst
rasch gemeinsam handeln zu können. Der Bezugspunkt des Orientierungsakts besteht
aus der Wortgruppe ich jetzt hier. In der ,ersten Person‘, ich, fallen dabei die
Instanz des Wahrnehmenden und die soziale Rolle des Sprechers und Mitspielers,
zusammen.*
Eben dieses Sprachprogramm, durch das ich den mir sinnlich gegebenen
Wahrnehmungsraum strukturiere, organisiert auch den Raum meiner Vorstellung –
und gibt mir eine zeitlich-räumliche Position in meiner Welt.
„ich“ und „mein Ich“
Wenn wir „ich“ sagen, geschieht das so selbstverständlich wie der Gebrauch jeden
anderen Wortes auch. Wenn wir „ich“ betonen – etwa in der erstaunten Frage:
„Was, ich soll das getan haben?!“ –, deuten wir Europäer gewöhnlich auf unsere
Brust, während Angehörige anderer Kulturen etwa auf ihre Nasenspitze oder einen
Punkt zwischen den Augen zeigen. Aber worauf beziehen sich diese Gesten
eigentlich? Was an uns oder in uns legt uns das Wort „ich“ in den Mund? Oder, in
einem grammatischen Interesse gefragt: Wofür steht die erste Person Einzahl des
„persönlichen Fürworts“? Neuere Grammatikbücher, zumal solche, die betonen, dass
Sprache Verständigungshandeln sei, weisen dem Wort ich vor allem die Funktion
zu, die Rolle des „Sprechers“ von der des „Adressaten“ einer Äußerung, du, zu
unterscheiden. Aber diese Erkenntnis ist für unsere Problemstellung, die
pragmatisch bestimmt ist, begrenzt. Denn wir markieren uns als Sprecher nur,
wenn wir eine Äußerung in ihren praktischen Folgen besonders hervorheben wollen
(z. B. „Ich sage nein!“). Gewöhnlich sprechen wir einfach und verlassen uns
darauf, dass unser Gegenüber ja sieht, wer da spricht.
Ganz andere Fragestellungen treten auf, wenn wir ich mit einem großen
Anfangsbuchstaben schreiben und mein davorsetzen oder das. Ich markiert dann
keinen Unterschied in der Gesprächsrolle mehr, sondern bekommt einen Inhalt –
genauer gesagt: vielerlei, wenn nicht gar allzu viele Inhalte.
Hier liegt auch der Grund dafür, warum die Frage nach der Beschaffenheit des Ich
heute Konjunktur hat.
Besonders für Menschen, die durch abendländische Kulturen geprägt sind, sieht es
so aus, als hätten sich die Inhalte, aus denen das/mein Ich sich zusammensetzt,
in der Moderne dramatisch vervielfältigt. Ja, für manche drängt sich sogar der
Verdacht auf, dass hinter meinem Ich viele Ichs verborgen sein könnten. Aber das
Problem ich/mein Ich ist schon seit ein paar tausend Jahren in der Welt – seit
der Zeit nämlich, als die Menschen anfingen, nicht im „ich“-Sagen, sehr wohl
aber im Ich-Sein ein Problem zu sehen. Das geschah in den verschiedenen Kulturen
nicht gleichzeitig. Blicken wir auf unseren eigenen Traditionsstrang, den
europäischen, stoßen wir auf griechische Mythen wie den vom Narziss, der sich in
sein eigenes Abbild verliebt, und philosophische Lehren, zum Beispiel die des
Sokrates, die mit der Frage: Wer bin ich? die Aufforderung verbunden haben, sich
selbst zu erkennen.
Heutzutage klingt die Frage Wer bin ich? pathetisch und scheint in ihrem
kompakten Anspruch überlebt – eben deswegen, weil sie ein einheitliches Ich
voraussetzt oder zum Ziel hat. Aber können wir, aufgeklärt und dem Ich gegenüber
skeptisch, wie wir sind, auf den Versuch, uns wenigstens von Zeit zu Zeit,
kürzer oder länger, als „Einheit“ zu erleben, ein für allemal verzichten? Ist
dieser ominöse Zustand, der auch als „Einklang mit sich selbst“, als „innerer
Frieden“ oder, bezogen auf die Tätigkeit unseres Gehirns, als „Zustand relativer
Stabilität“ beschrieben wird, nicht immer noch ein – wenn nicht das letzte –
Ziel?
Dafür, dass es so ist, spricht die Beobachtung, dass die abgeschobene Frage „Wer
bin ich?“ in vielerlei Abwandlungen und in den verschiedensten Situationen
wieder auftaucht, nämlich immer dann, wenn wir unser Verhältnis zu
„allem/allen“, „dem Ganzen“, unserer „Welt“, in Frage stellen: „Was soll das
Ganze?“ „Muss ich mir das alles gefallen lassen?“ „Ist das noch meine Welt?!“ So
fragen wir, wenn wir die Ursachen für unsere Schwierigkeiten außerhalb unserer
selbst bzw. bei anderen sehen. Suchen wir die Ursachen dagegen bei uns selbst,
lauten die Fragen: „Wie konnte mir das nur wieder passieren?!“ „Was ist los mit
mir?!“ „Bin ich noch normal?“
Fragen wie diese sind unabweislich. Sie mögen nicht allen von uns gleich nahe
liegen, aber sie können sich jederzeit aufdrängen. Wenn sie unerträglich werden,
wenn der „Leidensdruck“, den wir in uns aufbauen, zu groß wird, bleibt uns
nichts anderes übrig, als die Hilfe eines Experten in Anspruch zu nehmen. Dabei
kommen dann die verschiedensten psychotherapeutischen Konzepte, die
verschiedensten Weisheitslehren ins Spiel, philosophische, religiöse,
psychologische. Es geht dann nicht mehr nur um mein Ich allein, sondern zugleich
um meine Herkunftsfamilie, die Gesellschaft, in der ich lebe, und ihre Probleme,
um globale Krisenlagen und deren Ursachen, um Schicksal, Seele, Geist,
Willensfreiheit, die Herkunft und Zukunft des homo sapiens sapiens, Schuld,
Leid, Erlösung und was jenseits des Todes ist – um alles auf einmal, könnte man
sagen.
Das führt zu der Fragestellung, die alle bisher genannten überwölbt: Bezieht
sich das Nennwort Ich auf ein Einzelwesen (Individuum) oder eine Gattung (die
des homo sapiens sapiens)? Ist ein Ich etwas Einmaliges oder ist das Ich (die
Ich-Verfassung) genau das, was alle Menschen gemeinsam haben?
Sprachliche Orientierung in Raum und Zeit
Sehr viel einfacher, übersichtlicher, nämlich in größerer Wörtlichkeit, stellt
das Problem sich dar, wenn wir gezielt und ausschließlich danach fragen, was ich
in einer konkreten Sprachverwendung bewirkt, welche Funktion es in der
zwischenmenschlichen Verständigung hat. Darüber können wir uns bei der – noch
jungen – Disziplin informieren, die dafür zuständig ist, der Wissenschaft von
der Sprachpragmatik. Hier zeigt sich, dass ich neben der Funktion, den Sprecher
vom Adressaten einer Äußerung zu unterscheiden, mindestens noch eine erfüllt –
nämlich in der Verbindung mit zwei anderen ,inhaltsleeren‘ Worten, jetzt und
hier. Gemeinsam mit diesen markiert es die Position, von der aus wir unseren
Verständigungspartner orientieren, indem wir ihn, sprachlich zeigend (z. B.:
„Sieh mal, dort!“), auf etwas hinweisen. Das Besondere an dieser Verwendung: Es
genügt, wenn nur ein einziges der drei Worte ausgesprochen wird, denn sie
ergänzen und ersetzen sich gegenseitig. Wenn ich „ich“ sage, ist auch hier und
jetzt angesprochen, wenn ich „hier“ sage, auch ich und jetzt usf. Ja, es ist
sogar möglich, dass keins der drei Worte tatsächlich ausgesprochen wird – das
freilich gilt nur unter der Voraussetzung, dass ich für meinen Gesprächspartner
leibhaftig da bin, wenn wir also den Wahrnehmungsraum gleichzeitig gemeinsam
haben.
Machen wir uns den unauflöslichen Zusammenhang zwischen dem Hinweisen auf etwas
und der Bezugnahme auf die Position, die ich gerade diesem Augenblick einnehme,
an einem Beispiel klar:
Jemand, der offenbar nur wenige Worte meiner Sprache spricht, fragt mich nach
dem Weg. Er hat zwar einen Stadtplan in der Hand, weiß aber nicht, wo er sich
gerade befindet und daher auch nicht, wohin er sich wenden muss – er ist
desorientiert. Ich kenne mich aus hier. Ich deute auf einen Punkt auf dem Plan
und dann auf die Stelle, wo ich (meine Füße) stehe(n): „Hier.“ Er nickt, und ich
zeige in die Richtung, wo der Platz liegt, den er sucht: „Dort.“ Er nickt
wieder. Ich bin gar nicht sicher, ob er die Worte „hier“ und „dort“ kennt, aber
er hat sie in Verbindung mit meinen Gesten ohne weiteres verstanden. Ehe er
weitergeht, nickt er wieder, gleich mehrmals jetzt. Die Gemeinsamkeit der
Zeichensprache hat die Wortfremde außer Kraft gesetzt, das Ganze war so einfach,
als hätte ich ihm Feuer gegeben.
Dieser Art zwischenmenschlicher Verständigung, die sich auf den Bezugspunkt in
mir als Wahrnehmendem und Sprecher bezieht, entspricht die (Vor-)Strukturierung
meiner individuellen ,Welt‘, die ich Perspektivierung nenne. Um ein
naheliegendes Missverständnis auszuschließen: Das, was hier Perspektivierung
genannt wird, ist nicht mit der ,Perspektive‘ identisch, die unser Auge
,optisch‘ erzeugt, sondern vollzieht sich in sprachlich-orientierenden
Prozeduren.
Wir sprechen von Orientierung/Desorientierung aber nicht nur in diesem ,äußeren‘
Sinn. Wir benutzen die gleichen Worte auch, wenn es um unsere ,innere‘
Verfassung geht, und wir tun das nicht in einem metaphorischen Sprechen, sondern
analog, d. h. so, als geschehe die Orientierung im Inneren entsprechend den
Verhältnissen der Außenwelt. Der Unterschied, der dabei auftritt, ist freilich
eklatant. Während ich mich im äußeren, im realen Raum ohne weiteres durch andere
orientieren lassen kann, ist das bei einer ,inneren‘ Desorientierung nicht
ebenso möglich. Soll ich sagen: „Ich weiß nicht, wo ich bin“? Die Antwort darauf
wäre unweigerlich: „Aber du bist doch da!“ Erst im Nachhinein, in der
Vergangenheitsform, kann ich darüber sprechen: „Ich wusste nicht mehr, wo ich
war“, oder, ins Groteske verschoben: „Ich wusste nicht mehr, wo oben und unten
ist“, oder auf die Sinnesorgane selbst bezogen: „Hören und Sehen war mir
vergangen“. Aber – wo war ich eigentlich, als ich nicht mehr wusste, ,wo‘ ich
war? Was war mir abhanden gekommen? Die Vertrautheit der Dinge? Das Gefühl
dazuzugehören? Oder war ich „mir selbst verloren“?
Dann freilich hieße orientiert sein in diesem inneren Sinn nichts anderes als
,bei sich sein‘. Aber wo ist das?
außen/innen
Diese merkwürdige Verschiebung der Perspektive unserer Wahrnehmung von ,außen‘
nach ,innen‘ wird uns in diesem Text immer wieder beschäftigen. Eine bedeutsame
Folge davon ist, dass damit zwei verschiedene Gewissheiten in die Welt kommen,
eine, die sich aus der Beobachtung der Objekte um uns herum ergibt, und eine,
die wir in Verarbeitung der „objektiven“ Wahrnehmungen in uns/für uns selbst
erzeugen. Offenbar besteht zwischen beiden Arten der Wahrnehmung eine Beziehung,
eine Vergleichbarkeit und ein Unterschied, die schwer zu definieren sind.
Wir können mit einiger Gewissheit davon ausgehen, dass wir die Welt um uns
herum, die Welt der Objekte, zutreffend wahrnehmen und erkennen können –
jedenfalls in den Ausschnitten, die von den Naturwissenschaften untersucht
werden. Das gilt nicht in gleicher Weise für die soziologischen,
psychologischen, geschichtlichen Zusammenhänge, die unter dem Begriff Kultur
zusammengefasst werden. Zwar lassen sich auch in diesen Bereichen
„objektivierende“ Aussagen machen, etwa dann, wenn man sie als Teile des
Gesamtsystems „Gesellschaft“ begreift (man denke an Niklas Luhmanns
„Systemtheorie der Gesellschaft“), aber der Konsens, der sich dabei bildet,
beruht nicht auf denselben Grundlagen wie in den Naturwissenschaften, bei denen
es um die reine Messbarkeit der Objekte geht.
Auf eine kritische Grenze und zugleich Berührungsstelle treffen wir dort, wo die
Außenwelt und die menschliche Innenwelt aneinander anschließen, die Grenze,
jenseits derer die Daten unserer sinnlichen Wahrnehmung zu Beständen von
,Bewusstsein‘ verarbeitet werden. Eine Vergleichbarkeit allerdings ist
unübersehbar, eben die, die sich aus der erwähnten Verschiebung der
perspektivierten Wahrnehmung in Raum und Zeit ergibt: Auch unsere
Bewusstseinsbestände – jedenfalls ein beträchtlicher Teil davon – bilden einen
quasi-anschaulichen Zusammenhang, der eine Welt für sich ausmacht. Das ergibt
sich daraus, dass unser Bewusstsein die Raum-Zeit-Verhältnisse der Außenwelt
abzubilden vermag. Wir sprechen dann von der ,Vorstellung‘, die wir uns von der
Welt machen. So unterscheidet etwa Karl Popper zwischen der „Welt 1“, der
physikalischen (messbaren) Welt, und der „Welt 2“, der Welt der individuellen
Wahrnehmung und des Bewusstseins. Dazwischen freilich liegt das Problem, das die
Philosophie von ihren Anfängen an beschäftigt hat und das uns heute noch auf
Schritt und Tritt begegnet: wie die beiden „Welten“ sich aufeinander beziehen.
Weder können wir überprüfen, wie unsere ,Innenwelt‘ und die unserer
Verständigungspartner sich zueinander verhalten, noch können wir die
Übereinstimmung unserer eigenen Innenwelt mit der Außenwelt zuverlässig
kontrollieren. Nicht nur für das, was wir ,Vorstellung‘ nennen, auch für unsere
Erfahrungen/Erinnerungen insgesamt, ja für große Teile unseres Weltwissens (all
das, was nicht durch die Methodik der Naturwissenschaften gesichert ist) bürge
in letzter Instanz nur ich selbst – mit all den Zweifeln, die sich daraus
ergeben. Wir sind für jeden anderen und in gewisser Hinsicht auch für uns selbst
eine black box – wobei das kein pathologischer Befund ist, sondern eine
condition humaine.
Die kritische Anschluss- und Übergangsstelle zwischen Außenwelt und Innenwelt,
zwischen dem Zusammenhang der Objekte einerseits und all dem, was das „Labyrinth
in uns“ ausmacht, andererseits, ist das zentrale Thema dieses Essays. Man kann
dafür den Begriff der „Schnittstelle“ gebrauchen. Er stammt aus der
naturwissenschaftlichen Beschreibung von Kommunikationsprozessen und meint die
Eigenschaft einer black box, von der nur die „Oberfläche“ sichtbar ist: Zwei
black boxes können nur insoweit miteinander kommunizieren, wie ihre
„Oberflächen“ zusammenpassen.
Ich gehe also von der Hypothese aus, dass diejenige sprachliche Tätigkeit, die
hier Orientierungshandeln genannt wird (bei anderen Autoren ist vom „Zeigfeld“
der Sprache oder der „sprachlichen Deixis“ die Rede), als Schnittstelle zwischen
Außenwelt und Innenwelt fungiert. Deren zentraler Bestandteil besteht aus der
Wortgruppe ich jetzt hier. Der orientierenden Tätigkeit entspricht die
Perspektivierung des Wahrgenommenen – die Voraussetzung dafür, dass ich die
Details der sinnlichen Wahrnehmungen als Zusammenhang erkennen, dass „Welt“ sich
bilden kann. Meine „Welt“ aber erzeuge ich offenbar auf zweierlei Weise, genauer
gesagt, in zwei verschiedenen Zuständen/Tätigkeiten meines Bewusstseins – als
„Außenwelt“ und „Innenwelt“.
Das wird sich als ein doppelbödiger Befund erweisen. Er besagt einerseits, dass
eine bestimmte Art der Kommunikation, der Sprechakt der Orientierung, im Verlauf
der Menschheitsgeschichte eine Erweiterung seiner Anwendung erfahren hat. Er
wird, wie zu zeigen sein wird, auch dazu verwendet, Wahrnehmungen in unserem
,Inneren‘, zu strukturieren. Er besagt andererseits, dass ein Sprachprogramm,
das sich bei der Perspektivierung der Wahrnehmung in der Außenwelt als
kommunikativ äußerst erfolgreich erwiesen hat, bei der Binnen-Orientierung
problematisch wirkt.
Ästhetik und Selbsterfahrung
Dass ich bei der Beschreibung des Sprechakts der Orientierung immer wieder auf
literarische (vorstellungsbildende) Texte Bezug nehme, ist weder Zufall noch
Ausdruck einer Liebhaberei von mir. Darin ist wie sonst nirgendwo der
Erfahrungsschatz der Menschheit gespeichert, nicht ,objektiv‘ oder argumentativ
wie in Texten der Wissenschaft, sondern – zumal seit Beginn der Moderne – als
Selbsterfahrung. In Erzählungen, Romanen und Gedichten werden die anschaulich
orientierenden Worte und Wortelemente mit exemplarischer Prägnanz verwendet. Die
Position, von der aus die Textwelt jeweils wahrgenommen und – was dasselbe ist –
von der aus der Leser orientiert wird, ist in der europäischen Literatur seit eh
und je, seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber mit zunehmender
Konsequenz markiert. Ein zentraler Aspekt textlicher Ästhetik organisiert sich
darin.
Auf den Zusammenhang zwischen Ästhetik und der Orientierung in Zeit und Raum
wurde ich in einem meiner ersten Studiensemester aufmerksam, das ich an der
Universität Hamburg verbrachte.
Eher zufällig geriet ich in eine Vorlesung über „Griechische Metrik“, der Dozent
hieß Bruno Snell. Schon die erste Vorlesung elektrisierte mich. Ich begriff,
dass etwas, das ich für trockenes Bildungswissen gehalten hatte, mit meiner
eigenen sinnlichen Erfahrung zusammenhing, dass die Vers-Takte, die ich hörte
und deren Wirkung ich empfand, in mir ihren Resonanzboden hatten. Bruno Snell
war ein so genauer wie entspannter Redner, der nicht nur über sein Lehrgebiet
vorzüglich informiert war, sondern auch im Verhältnis zu seinem Publikum
vorzüglich orientiert. Umso überraschter war ich, als er eines Tages ausblieb,
so lange, dass von Zuspätkommen schon nicht mehr zu reden war. Nichts war an die
Tafel geschrieben, und es tauchte auch keiner seiner Assistenten auf, um eine
Botschaft zu überbringen. Als er dann doch noch kam, war ich auf seine
Entschuldigung gespannt. Er kam, mit gesenktem Kopf und dem linken Handgelenk am
Ohr, ging so bis zum Pult, und ich dachte, er würde sagen, dass seine Armbanduhr
stehengeblieben sei. Als er den Kopf wieder hob, sah ich, dass er lächelte.
„Meine Damen und Herren“, sagte er, „was hören Sie, wenn Sie Ihre Armbanduhr ans
Ohr legen?“ Ich war verdutzt, die anderen vermutlich mit mir. „Ich weiß, was Sie
hören“, sagte er, „denn ich höre es auch: tick-tack, tick-tack. Aber die
Armbanduhr macht gar nicht tick-tack, sondern immer nur tick-tick-tick. Daran
können Sie das Bedürfnis unseres Bewusstseins erkennen, sinnliche Wahrnehmung zu
strukturieren.“
Er wurde ernst, zögerte ein paar Augenblicke, fügte dann, eher beiläufig, hinzu:
„Die Ästhetik, die von sich behauptet, eine Theorie der Wahrnehmung zu sein –
aisthanomai bedeutet ja auf Deutsch nichts anderes als ,ich nehme wahr‘ –, hat
die sinnliche Wahrnehmung und deren Versprachlichung immer unterschätzt. Nicht
unbedingt zu ihrem Vorteil.“
Ich ging in die Bibliothek und besorgte mir sein Hauptwerk: Die Entdeckung des
Geistes (1946). Es faszinierte mich so wie schon die Vorlesung. Zum ersten Mal
las ich eine wissenschaftliche Abhandlung, die einen plausiblen Vorschlag
machte, das Spezifische des ,Geistes‘ aus der Entwicklung der Gattung Mensch
herzuleiten – und den Beweis dafür durch Beobachtungen an der Sprache und ihrer
Entwicklung zu führen.
Das Thema der perspektivierten Wahrnehmung und die Anlage des Ganzen
Seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben sich die Möglichkeiten
verbessert, den – problematischen – Zusammenhang zwischen ich und das (bzw.
mein) Ich zu erörtern. Das hat mit einer Entwicklung der Sprachtheorie und
Sprachphilosophie zu tun, der sogenannten ,pragmatischen Wende‘, die von der
Entdeckung des Handlungscharakters des Sprechens ihren Ausgang nahm. Die Namen,
die damit verbunden sind: John L. Austin, John R. Searle und – vor allem – ein
Name, der erst nachträglich und daher verspätet in diese Reihe eingerückt ist:
Karl Bühler. Dem entspricht in der Literaturtheorie der Wechsel von der Werk-
zur Wirkungsästhetik, d. h. von der Beschreibung des Werkes als eines
Bedeutungssyndroms zur Beschreibung seines Wirkungspotentials und der Entfaltung
der Tätigkeit des Lesers, des Leseakts, vor allem durch Wolfgang Iser.
Vergleichbare Entwicklungen haben sich in anderen Fächern, etwa der Soziologie
und, dort besonders folgenreich, in der Ethnologie, vollzogen. Die Namen, die
hier vor allem zu nennen sind: Bronislaw K. Malinowski, Peter Winch und Clifford
Geertz.
Jede einzelne dieser Veränderungen ist aus der Binnenentwicklung der jeweiligen
Disziplin herzuleiten. Darüber hinaus lässt sich dieser Prozess, der auf eine
Schärfung und zugleich Relativierung der Beobachter- und Sprecherposition
hinausläuft, aber auch mit einer weltgeschichtlichen Entwicklung in Verbindung
bringen: dem Zuendegehen des kolonialen Zeitalters, dessen Universalbegriffe
eurozentrisch bzw. unkritisch-abendländisch bestimmt waren: „Zivilisation“,
„Fortschritt“, „Weltgeist“, „Weltliteratur“, „Allgemeinmenschlichkeit“ usf.
Inzwischen hat sich das Bewusstsein der anhaltenden Folgen europäischer
Welteroberung vertieft (Kapitel 10). In dem Maße, in dem das geschehen ist, hat
sich die Verwendung dieser Begriffe problematisiert.
Der Essay ist in drei Teile gegliedert.
Teil I beschäftigt sich mit der sprachlichen Seite der Orientierung, die zu der
für uns Menschen charakteristischen Perspektivierung meiner Welt führt. Kapitel
1 sichtet und beschreibt die – erstaunlich kleine – Gruppe von Worten und
Wortelementen, mit denen der Sprechakt der Orientierung in der Allgemeinsprache
vollzogen wird. Kapitel 2 fragt nach dem Zusammenhang zwischen Orientierung und
Meditation und greift insofern voraus, als die Meditation den Orientierungsakt
in beiden Dimensionen vollzieht, ,außen‘ und ,innen‘. Das Kapitel 3 ist der
Orientierung in literarischen Texten gewidmet. Dabei beschränke ich mich auf die
textliche Funktion der, zuerst von Karl Bühler so genannten, „Origo“ – die
Leseaktvorgabe, in der Autor und Leser in der Perspektivierung des
Wahrgenommenen zusammenfinden. Die Besprechungen einzelner (exemplarischer)
Textwelten sind in den Anhang verlegt.
Teil II erörtert den Zusammenhang zwischen der Orientierung ,außen‘ und ,innen‘.
Dabei setzt die Argumentation mit Kapitel 4 noch einmal neu ein – mit
umgekehrter Blickrichtung sozusagen. Ging es bisher um die Herausarbeitung der
Prozeduren des Sprechakts der Orientierung und ihren internen Zusammenhang,
werden jetzt ganz verschiedene Bereiche der Alltagserfahrung daraufhin
betrachtet, welche Rolle darin die raum-zeitlich strukturierte Orientierung
spielt. Kapitel 5 verfolgt die Fragestellung, wie es im Verlauf der Sprach- und
Bewusstseinsgeschichte zur Herausbildung dessen gekommen ist, was „das Ich“
genannt wird. Folgt man der Entwicklung bis in die Gegenwart, wird man
unweigerlich mit den Defiziten des modernen Ich konfrontiert. Wie kommt es, dass
wir mit unseren Versuchen, uns selbst zu ,harmonisieren‘, immer wieder scheitern
(Kapitel 6)?
Teil III schließlich konzentriert sich auf Probleme zwischenmenschlicher
Kommunikation, die sich aus der perspektivierten Wahrnehmung ergeben. Die
Gesamtheit all der Wahrnehmungen, aus denen meine Lebenserfahrung sich
zusammensetzt, gehört nur mir, die Geschichte ihres Zustandekommens macht die
Einmaligkeit meiner Existenz aus. Das hat Folgen für die Verständigung. Nicht so
sehr, wenn es um die Verständigung über Objekte des „externen Realismus“ geht,
der von den Naturwissenschaften bearbeitet wird, sondern dann, wenn meine/deine
Individualität selbst, unsere jeweilige ,Ich-Erfahrung‘ zur Sprache kommt
(Kapitel 7 und 8). Objekterkenntnis und intersubjektive Verständigung bilden
verschiedene Ausschnitte von Welt, realisieren sich in verschiedenen
Sprachregistern. Diese Differenz hat in den Naturwissenschaften einerseits, den
Kulturwissenschaften andererseits zur Ausbildung verschiedener
Methodenzusammenhänge geführt. Der reinen Sachlichkeit der Objektwelt, dem
„externen Realismus“, den die Naturwissenschaften voraussetzen, entspricht in
den Kultur- bzw. Deutungswissenschaften ein gemischtes Beobachtungsfeld, das
eine methodische Einbeziehung des – selbst nicht methodisch fassbaren – Ich
unvermeidlich macht (Kapitel 9). Im Schlusskapitel des Ganzen (Kapitel 10) wird
der komplexeste aller Realitätsausschnitte heute, die Veränderung der
menschlichen Lebenswelt durch den Menschen und die Notwendigkeit der globalen
Verständigung über ein gemeinsames Handeln in der Umweltkrise, zum Ausgangspunkt
genommen, um das alte Postulat der ,Gleichheit‘ aller Menschen in Begriffen der
Kommunikationspragmatik zu erörtern.
Jedem einzelnen Kapitel ist eine knappe Einleitung vorangestellt, die eine
Zielvorgabe liefert und den Stellenwert des Kapitels in der Argumentkette
skizziert.
Die Textsorte und die Adressaten dieses Buches
Diese Schrift ist Versuch in einem zweifachen Sinn.
Zum einen: Der Sprechakt der ,Orientierung‘, der sich um ich-jetzt-hier
organisiert, ist in nahezu alle menschliche Kommunikation eingewoben. Will man
ihn erörtern, muss man auf sehr verschiedene Aspekte von Verständigung eingehen.
Das macht eine starke Verknappung und Bündelung der Argumente unvermeidlich.
Zum anderen: Der Begriffskomplex der ,Selbsterfahrung‘ – ebenso wie
,Orientierung‘ – ist noch kein etablierter Diskursgegenstand. Das heißt auch,
dass wir über kein spezifisches Datenmaterial dazu verfügen, dass keine
bestimmte Disziplin dafür zuständig ist. Es gilt also, einen Gegenstand zu
entfalten – und zugleich plausibel zu machen, dass es ihn überhaupt gibt.
Die Auseinandersetzung mit der Kollegenliteratur habe ich weitgehend in die
Anmerkungen verlegt und den wissenschaftlichen Belegapparat klein gehalten.
Dafür habe ich verhältnismäßig ausführlich zitiert – besonders dann, wenn die
Zitate beispielhaft dafür sind, wie sich kulturwissenschaftliche und
naturwissenschaftliche Argumente aneinander anschließen lassen.
Aber das Thema dieser Schrift bringt noch ein anderes Problem der Darstellung
mit sich. Der Zugang zu dem, was wir ,Innenwelt‘ nennen, wird von der Seite der
(intersubjektiven) Verständigung über die Außenwelt gesucht. Aber unser
,Innenraum‘ ist ja auch Schauplatz all dessen, was wir „Selbstwahrnehmnung“,
„Selbstgefühl“, „Selbsterfahrung“, „Selbstsuche“ und – wenn wir die ,Suche‘ als
einen kommunikativen Prozess in unserem Inneren verstehen –
„Selbstverständigung“ nennen. Eben hier, bei der Herausarbeitung des
Zusammenhangs und zugleich der Differenz zwischen Außen- und Innenverständigung,
kommt es zu einem Problem der Wortwahl. Bei der Beschreibung der Kommunikation
zwischen den Individuen ist Verallgemeinerung möglich, der Beschreibende kann
„wir“ sagen oder „man“. Geht es aber um die Besprechung dessen, was hier
Selbstverständigung (Selbstvergewisserung) genannt wird, bleibt nur „ich“. Die
Verwendung der ersten Person Singular bedeutet dann keine Ausflucht in die
Unverbindlichkeit der sogenannten „Subjektivität“, sondern ist die Sprechweise,
in der geäußerte Individualität zu ihrer größten Prägnanz kommt. Die Textsorten,
in denen diese Art von Erfahrung gespeichert ist, sind Lebenserinnerungen,
Tagebucheinträge, Selbstformulierungen von Figuren in literarischen
(fiktionalen) Texten und – das vor allem – mündliche Gespräche des Alltags, die
in einem so vertrauensvollen Rahmen geführt werden, dass Selbstmitteilung
möglich wird.
Man kann daher sagen, dass es sich bei dieser Schrift um den Versuch handelt,
die ,erste Person‘ methodisch zu besprechen.
Für welche Leserschaft ist dieses Buch in erster Linie geschrieben?
Auf die Unterscheidung zwischen Fachleuten und Laien möchte ich mich bei diesem
Thema nicht einlassen. Das liefe auf die Frage hinaus, ob es Fachleute und Laien
der sinnlichen Wahrnehmung und deren Versprachlichung gibt, Fachleute und Laien
der Selbsterfahrung und der Verständigung darüber. Allenfalls Berufsfelder
lassen sich benennen, in denen Argumente, wie die hier vorgetragenen, erhellend,
vereinfachend, orientierend wirken können: Kommunikationswissenschaft, (Sprach-)Anthropologie,
Soziologie und Psychologie, Sprach- und Literaturwissenschaft, Didaktik und
Pädagogik.
Auf ein individuelles Kriterium meine ich mich festlegen zu können: Das Buch ist
für Leser geschrieben, denen die Beschäftigung mit sich selbst, neugierig und
nachdenklich, nicht überflüssig oder gar lästig ist.
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Kapitel 2
jetzt-hier / innen-aussen – die Koordinaten der Meditation
In den verschiedenen kulturellen Traditionen, die Meditation ausgebildet
haben, scheinen die Inhalte und Techniken des Meditierens verschieden, während
die Leid-Erfahrung, auf die das Meditieren antwortet, immer dieselbe ist. Sieht
man freilich näher hin, taucht auch im Vollzug der verschiedenen
Meditationsformen eine Gemeinsamkeit auf – eine Konfiguration der
„konzentrierten Aufmerksamkeit“, wie sie für das Meditieren charakteristisch
ist, bei der unser Gehirn beides zugleich erzeugt: die Inhalte der inneren
Wahrnehmung und die Instanz, die diese Inhalte in den Blick fasst.
Wenn im Folgenden die frühbuddhistische Meditation, die Übungen des japanischen
Zen, die christlich-mystische Kontemplation und die Übungen des autogenen
Trainings skizziert werden, kann der Erkenntnisgewinn sich nicht im Hinblick auf
die verschiedenen Traditionen selbst ergeben, sondern nur aus der gegenseitigen
Schärfung im Kontrast.
Meditation und Wahrnehmung
In ihrem Buch Hirnforschung und Meditation. Ein Dialog (2008) kommen der
deutsche Hirnforscher Wolf Singer und der französische Molekularbiologe Matthieu
Ricard, der buddhistischer Mönch geworden ist, auch auf das Verhältnis zwischen
Außen- und Innen-Wahrnehmung zu sprechen. Offenbar hat der Mensch im Verlauf der
Evolution seines Bewusstseins eine Fähigkeit ausgebildet, die sich als eine
innere Form der Wahrnehmung beschreiben lässt. Dabei werden die kognitiven
Fähigkeiten und Tätigkeiten des Gehirn selbst zum „Objekt der Wahrnehmung“. Das
Gehirn vollzieht etwas, was es selbst „wahrzunehmen“ vermag. Diese wahrnehmende
Instanz wird von Singer „inneres Auge“ genannt.
Wir sprachen über die Möglichkeit, mentales Training als Werkzeug zu benutzen,
als ein Instrument, um das Auflösungsvermögen des inneren Auges (…) zu
ermöglichen, und das in derselben Weise, wie sich die Wahrnehmung der äußeren
Welt verfeinern lässt. (…) Wenn zutrifft, dass mentales Training denselben
Effekt hat, sich aber als Objekt der Wahrnehmung die kognitiven Fähigkeiten des
Gehirns selbst vornimmt und sich derselben Aufmerksamkeitsmechanismen bedient,
die wir normalerweise für die Wahrnehmung der Vorgänge in der äußeren Welt
einsetzen, dann sollten meditative Übungen mit Gehirnaktivitäten einhergehen,
die für Zustände konzentrierter Aufmerksamkeit charakteristisch sind.
Der Aspekt der „Verfeinerung“ von Außen- bzw. Innenwahrnehmung, wie Meditation
sie anstrebt, soll hier nicht aufgegriffen werden. Festhalten möchte ich für das
Folgende nur die Annahme Singers, dass es „Aufmerksamkeitsmechanismen“ gibt, die
außen und innen gleichermaßen wirksam werden, dass also eine Parallelität
besteht zwischen Wahrnehmung in der Außen- und Wahrnehmung in der Innenwelt, von
Sehen mit dem Sinnesorgan Auge und Sehen mit dem „inneren Auge“.
Was die Wahrnehmungsobjekte des inneren Sehens angeht, kommen dafür nur solche
Ereignisse infrage, die das Gehirn selbst hervorbringt. Das Problem, das dabei
auftritt: Wie ist es möglich, dass das Gehirn, ein körperliches Organ, beides
zugleich erzeugt: eine wahrnehmende Instanz und das davon Wahrgenommene? Und
weiter: Wie ist es vorstellbar, dass unser Gehirn bei der Innenwahrnehmung
dieselben Tätigkeiten vollzieht, die auch für die Objektwahrnehmung in der
Außenwelt unabdingbar sind: „Auswahl und Bewertung“ der „sensorischen Signale“ –
Fragen, die Wolf Singer seinem Gesprächspartner und zugleich sich selbst stellt:
Du machst dein Gehirn also zum Objekt eines hochdifferenzierten kognitiven
Prozesses, der nach innen anstatt auf die äußere Welt gewandt ist. Dabei kommen
offenbar dieselben kognitiven Mechanismen ins Spiel, die das Gehirn anwendet,
wenn es sensorische Signale zu kohärenten Wahrnehmungen verarbeitet. Die
Aufmerksamkeit richtet sich auf einen ganz bestimmten Inhalt, im Fall der
Meditation müssen dies gespeicherte Inhalte beziehungsweise hirninterne Zustände
sein. Es erfolgt eine Auswahl und Bewertung, ganz so wie bei der Wahrnehmung von
Objekten der Außenwelt.
Auf die Erörterung der Instanz der Wahrnehmung, die das Gehirn – und sei es
jeweils nur momenthaft – erzeugt, lässt Singer sich hier nicht ein, aber indem
er von einer „Richtung der Aufmerksamkeit“ auf wahrgenommene Inhalte, von einer
„Auswahl und Bewertung“ der „sensorischen Signale“ spricht, impliziert er sie.
Wie es zu dieser merkwürdigen Konstellation in unserer Innenwelt kommt, soll
auch hier – vorläufig – noch unerörtert bleiben (vgl. die Kapitel 4 und 5). Aber
die zitierten Passagen machen immerhin eine Unterscheidung verschiedener
„Inhalte“ möglich, die vom Meditierenden innerlich angezielt werden können.
Die Differenz der „Inhalte“ lässt sich zu einer kontrastiven Besprechung der
verschiedenen Traditionen des Meditierens nutzen.
So richtet sich, wie zu zeigen sein wird, die Aufmerksamkeit im Buddhismus auf
etwas, das der einzelne Meditierende in sich und für sich selbst erzeugt, einen
bestimmten Zustand des Bewusstseins. In der mittelalterlich-christlichen
Kontemplation ist die Aufmerksamkeit auf „Gott“ hin orientiert, der als etwas
ganz Nahes und zugleich unendlich Fernes, „Jenseitiges“ erfahren wird. In den
Übungen des autogenen Trainings schließlich zielen die autosuggestiven Kommandos
auf die Veränderung von Wahrnehmungen am/im Körper des Übenden. Diese Art von
„Entspannungsübung“ ist für den hier erörterten Zusammenhang auch dadurch
aufschlussreich, dass sie kraft Sprachverwendung vollzogen wird.
Meditation und Sprache
Wenn wir davon ausgehen, dass es beim Meditieren um Erfahrungen geht, die jeder
nur für sich machen kann – was der Erfahrung nicht widerspricht, dass die
Gegenwart anderer, die ebenfalls meditieren, hilfreich sein kann – stellen sich
mindestens zwei Fragen: Lässt sich ein Erleben, das ich als Einzelner in mir und
mit mir mache, überhaupt in eine Sprache bringen, die ich mit vielen anderen
teile? Die Antwort muss lauten: Nur unvollkommen! Sprechen über
Meditationserfahrung bzw. mystische Kontemplationserfahrung führt unweigerlich
an die Grenzen des Sagbaren. Das Sprachversagen selbst ist dann eines der
Themen, die zum Sprechen über Meditation gehören.
Die zweite Frage: Was kann das Motiv dafür sein, über etwas zu sprechen, was
nicht – jedenfalls nicht angemessen – besprechbar ist?
Eine Antwort, ich meine, die wahrhaftigste und tiefste Antwort, die sich geben
lässt, stammt von dem Mann, durch den die Meditation als ein erprobter und
begriffener Weg aus der Leidverfassung der Existenz eröffnet worden ist –
Buddha. Seine Antwort handelt von zweierlei. Da ist einmal das Bedürfnis, die
Glückserfahrung der gelingenden Meditation für sich zu behalten, und da ist die
Entscheidung, dabei nicht zu verharren, sondern sich auf die Mühsal und das
Risiko der Vermittlung der Glückserfahrung an andere einzulassen.
Ich überlegte mir: Jetzt habe ich diese Lehre gefunden – sie ist tief, schwer
einzusehen und schwer zu erkennen. (…) Wenn ich nun die Lehre aufzeigte und die
anderen würden mich nicht verstehen: Was für eine Last, was für eine Plackerei
wäre das für mich. Als ich das so bedacht hatte, da neigte sich mein Herz zum
Rückzug von der Welt, zum Genießen der vollkommenen Freiheit, war nicht zur
Weitergabe des Dhamma gestimmt. (…) Aber dann sah ich mit dem Buddha-Auge über
die Welt und erkannte die Menschenwesen mit ihren so unterschiedlichen
Bedingungen. (…) So sollten nun auch die Tore des Todlosen für all jene offen
stehen, die bereit waren zu hören – im Vertrauen auf mich, meine Erwachung und
die von mir erkannte Lehre zur Leidbefreiung.
Das Wort meditieren (von lateinisch: meditari, ,nachdenken, sich versenken‘,
verwandt mit metiri, das ,vermessen‘ bedeutet) hat drei Bedeutungskomponenten.
Zum einen ist es objektgerichtet (transitiv) und bedeutet dann so viel wie
,etwas sinnend betrachten‘, ,auf etwas sinnen‘. Zum anderen bezeichnet es, zumal
in dem Substantiv Meditation, eine religiös oder sonst spirituell motivierte
,Vertiefung‘, ,Versenkung‘, zu deren wichtigsten Merkmalen es gehört, dass der
Meditierende nicht nur in Ruhe ist, sondern zugleich konzentriert auf etwas, sei
es außerhalb, sei es innerhalb seiner selbst. Aber auch ,Offenheit‘ kann in
bestimmten Vorstellungen von Meditation das Ziel sein, ,Entgrenzung‘, ja –
scheinbar – das genaue Gegenteil von Konzentration, nämlich die ,Entleerung‘
unseres Ich von allen Inhalten. Zum Dritten bedeutet Meditation so etwas wie
eine Vermittlungsfunktion. Diese Bedeutungskomponente ergibt sich vor allem über
die adjektivische Variante des Wortes, lat. medius: der ,mittlere‘. Das gilt
sowohl für räumliche als auch für zeitliche Verhältnisse. In den
Naturwissenschaften bedeutet ,Medium‘ soviel wie ,Vermittlungsstoff‘,
,vermittelndes Element‘, mit dessen Hilfe physikalische oder chemische Vorgänge
ausgelöst werden. Für uns hier ist die metaphorische Bedeutung ,in der Mitte‘ im
Sinne von ,neutral‘, ‚vermittelnd‘, besonders aufschlussreich, da sie auf die
Übergangsstelle zwischen zwei sonst getrennten Bereichen abzielt.
Das menschliche Bedürfnis, in eine zur Mitte hin ausgerichtete Verfassung zu
finden, ist universell. Unübersehbar freilich ist, wie bereits angesprochen,
dass die Menschen verschiedener Zeiten und Kulturen den erwünschten Zustand
verschieden erlebt haben und immer noch erleben. Nicht nur, dass sie ihn mit
anderen Theorien, Glaubensinhalten, Bildern von dem, was der Mensch ist oder wie
er sein sollte, in Verbindung bringen, sie nähern sich ihm auch auf
verschiedenen Wegen, bedienen sich dabei ganz verschiedener ,Techniken‘.
Um diese Unterschiede anschaulich – und damit erst wirksam – werden zu lassen,
soll in der Herausarbeitung der kulturgeschichtlichen Besonderheiten nicht nur
argumentiert, sondern auch erzählt werden.
Meditation im Frühbuddhismus
Der historische Buddha, Gotama Buddha genannt, hatte seine Jünger etwas zu
lehren, was sich bis heute in der Welt lebendig erhalten hat. Das Besondere an
seiner Lehre ist, dass ihr Inhalt auf sehr spezifische Weise zustande gekommen
ist: aus der Erfahrung, die einer mit sich selbst, in seinem individuellen
Leben, gemacht hat. Sie startet nicht mit Allgemeinem, nicht mit Erkenntnissen
über die Wirklichkeit (Wahrheit), das richtige Leben, das angemessene
Zusammenleben mit anderen oder gar die bestmögliche Gesellschaft. Der Buddha
sagt „ich“. Dass er das kann, liegt seiner Lehrerrolle voraus – auch das ein
Teil der erworbenen Freiheit. Was er lehrt, kann von seinen Jüngern nur dadurch
realisiert (,verstanden‘) werden, dass sie es selbst, in ihrem Leben, (nach)vollziehen.
(Vgl. dazu Kapitel 10.)
Das bringt es mit sich, dass die Lehre des Buddha etwas von einer
Selbst-Erzählung an sich hat – etwas von der Textsorte der Autobiographie.
Dieses Merkmal der Lehrrede des Buddha, das in den Texten des Pali-Kanons
angelegt ist, wurde in den Übersetzungen in verschiedener Weise berücksichtigt.
Der zentrale Inhalt der Lehre: das von Buddha an sich selbst erfahrene
Lebensleid – und die von ihm gefundene Möglichkeit, es zu überwinden. Er hat
durchschaut, dass alle Erfahrung, die wir irgend im Leben machen können, alles,
was wir ich-haft erleben, der (Selbst-)Täuschung unterliegt. Die Täuschung aber
entsteht dadurch, dass wir unsere Welt und uns selbst (unser Ich) als
,substantiell‘, als ,dauerhaft‘ erleben. Solange wir ihr zum Opfer fallen,
werden wir der Probleme, die wir mit uns und der Welt haben, nicht Herr. Die
Kräfte, die uns an andere und unser bisheriges Leben ketten, zwanghafte
Leidenschaft, Neid, Konkurrenz, Besitzgier, Schuld, Angst usf., werden uns
verstrickt halten und daran hindern, die Dinge der Welt und uns mittendrin so zu
erfahren, wie sie sind. Gelingt uns das aber, gelingt es uns, die
,Bedeutungslosigkeit‘ aller Geltungen in der Welt zu durchschauen, haben wir mit
der Erleuchtung zugleich auch die Erlösung erreicht.
Ich hatte jetzt ein anderes Leben gefunden, das zum Freiwerden von allen
Jenseitsgedanken führt, zum Freiwerden von den Fesseln der Sinne und des ewig
spinnenden Geistes, ein Leben, das zur Stille führt, zum Erwachen, zum Nibbanam,
zur vollkommenen Wunschlosigkeit: da gibt es keine Sehnsucht mehr nach dieser
Welt und auch keine mehr nach einer jenseitigen Welt. (…) Ich war nun still
geworden, und zum Stillwerden wollte ich meine Lehre aufzeigen. Ich war über die
Welt der selbstgeschaffenen Leiden hinausgekommen, und zur Freude an der
selbstlosen Leidfreiheit wollte ich meine Lehre aufzeigen.
Uns darum zu mühen, ist unser eigenes Interesse. Kein höheres Wesen ermuntert
oder zwingt uns dazu. Unser Handeln auf Erlösung hin ist freiwillig – oder es
geschieht nicht. Wenn wir den Ausstieg verfehlen, wenn wir im Sinne des
Erlösungsziels ,falsch‘ leben, d. h. uns so verhalten, dass es für uns (und
womöglich auch andere) ,schädlich‘ ist, hat das keine metaphysische Qualität.
Eine Instanz, vor der etwas ,Schuld‘ sein könnte, gibt es nicht. Der – im
Prinzip – götterlose Buddhismus, wie er aus dem Vielgötter-Kosmos des Hinduismus
hervorgegangen ist, hat das, was wir Abendländer „Sünde“ nennen, nicht gedacht.
In dieser Hinsicht ist der Frühbuddhismus dem antiken Griechentum, zumal der
Lebensauffassung der Kyniker, aber auch der Epikuräer oder Stoiker, näher als
der mosaisch-christlichen Lehre.
Die richtige Erkenntnis mit ihren erlösenden Folgen ist denn auch das
eigentliche Ziel der Meditation. Aber indem wir uns diesem Ziel nähern,
geschieht in der Meditationspraxis noch etwas anderes: Wir lernen dabei, mit
unserem Körper, den leiblichen Erfahrungen und den sinnlichen Wahrnehmungen
richtig umzugehen.
Die Basis-Haltung des Meditierenden ist das Sitzen, möglichst in der
,Buddhahaltung‘, oft als Lotos-Sitz bezeichnet, die am besten in
Abgeschiedenheit und Stille geübt wird. Aber das ist nicht zwingend. Der Weg zur
rechten äußeren und inneren Verfassung kann auch durch Musik unterstützt werden,
durch meditatives Gehen, Tanz, Yoga oder andere Übungen, in denen der
Meditierende das Innengeschehen körperlich begleitet. Hierher gehört auch das
Rezitieren von Gebetstexten (Sutren), das in einem kollektiven Sprechgesang
erfolgt. Dieses Vor-sich-hin-Sprechen ist monologisch. Jeder Übende hört (auf)
sich selbst. Es gibt dabei keinen Adressaten – wie etwa ,Gott‘ im christlichen
Gebet. Die zentrale Funktion dieser Praxis: die Quantität und Intensität der
sinnlichen Wahrnehmungen allmählich zurückzufahren, uns auch körperlich von all
dem, was uns scheinhaft gefangen hält, abzutrennen.
Eine der frühesten Reden des Buddha, in denen er seinen Weg der Erleuchtung
durch Meditation beschreibt, betont die Komplementarität von äußerlicher
(körperlicher) und innerer (mentaler) Erfahrung besonders:
Da waren die Verstrickungen in die Welt der Sinne und die dauernde Sorge, sie zu
befriedigen: Ich nahm Abstand davon, ließ die Sinnesdränge zur Ruhe kommen,
beobachtete sie aufmerksam und fühlte mich bald von der Ruhe der Sinne mehr
angezogen als von ihrer Unruhe. Indem ich außen nichts mehr suchte, fand ich
innen eine neue, mir wohltuende Zufriedenheit, das Einswerden mit mir selbst.
Die Stelle ist für das, was hier erörtert wird, besonders aufschlussreich, weil
das Zu-sich-Kommen des Meditierenden als eine Interaktion zwischen außen und
innen, zwischen Wahrnehmung und Binnentätigkeit erfahren wird. Dabei sieht es so
aus, als werde die Fähigkeit, die innere Einheit und die damit verbundene
„Zufriedenheit“ zu erleben, aus dem Umgang mit den sinnlichen Erfahrungen
gewonnen – der Abstandnahme davon, deren „Beobachtung“ aus der Distanz – und
dann auf Prozesse der Innerlichkeit übertragen.
Dieses Verfahren bietet sich offenbar deswegen an, weil die Außenwahrnehmungen
einfacher sind als die komplexeren Verhältnisse im ,Innen‘. Wenn es also zu
einer Verschmelzung von außen und innen, zu einer Einheitserfahrung des
Meditierenden kommt, dann durch die Übertragung der Orientierungen, die sich bei
der Strukturierung sinnlicher Wahrnehmung bewährt haben, auf die komplexeren
Verhältnisse im Menschen-Inneren. Hier wie dort kommt es zu einem Abbau von
Komplexität, wobei der Reduzierung der sinnlichen Daten das Zur-Ruhe-Kommen der
psychisch-mentalen Aktivitäten entspricht.
Meditation im christlichen Mittelalter: die Nähe-Ferne-Komplikation im
Gottesbegriff
Auch das mittelalterliche Europa kannte so etwas wie Meditation. Auch in Europa
gab es ,innere Versenkung, innere Einkehr, Zur-Ruhe-Kommen‘. Man erlebte das in
mönchischer Gemeinschaft oder in der Abgeschiedenheit des Einsiedlers. Man
suchte und fand es in Reglosigkeit und Schweigen, in der Hingabe an eine Arbeit,
im Chorgesang, in der wiederholten Ausschreitung des klösterlichen Kreuzgangs
oder auf Pilgerwanderungen, wobei die Einförmigkeit der Bewegung und die
Ausrichtung auf das göttliche Ziel zusammenwirkten. Vor allem aber fand man sie
im Beten. In der Regula Benedicti, der Lebensanweisung des Heiligen Benedikt an
die Mönche des von ihm gegründeten Ordens, sind die körperliche Tätigkeit und
die innere Einkehr unmittelbar gekoppelt: Ora et labora! (Bete und arbeite!) Das
Beten ist die meditative Verfassung des Abendlands par excellence geworden. (Zum
Dialograhmen des Gebets siehe Kapitel 9.)
Während man in den anderen ,Übungen‘ noch eine Gemeinsamkeit zwischen dem frühen
Buddhismus und dem christlichen Mittelalter erkennen kann, wird am Beten der
Unterschied unübersehbar. Was das abendländische Beten von der asiatischen
Meditation unterscheidet, ist die Blickrichtung. Während der Meditierende des
frühen Buddhismus bei sich selbst bleibt, sein Blick allenfalls auf etwas real
Sichtbares gerichtet ist, zielt der Blick beim Beten auf Gott hin. Das verweist
auf zwei verschiedene Weltbilder, zwei verschiedene Konzepte von Erlösung. Im
Buddhismus ist der Einzelne für seine Befreiung von Leid und ewiger Wiederkehr
selbst zuständig, im Christentum bedarf er der Hilfe Gottes.
Die Abhängigkeit eines Christen von Gott steht in einem größeren Zusammenhang,
dem der Welt als Schöpfung. Das Geschöpf kann nur mit Hilfe des Schöpfers, dem
Urgrund von allem, zu sich kommen. Wenn also davon die Rede ist, dass der
Betende auf Gott hin ausgerichtet ist, dann ist das keine Metapher, sondern die
Bezeichnung einer naturhaft vorgegebenen Bestimmung. Eine Gebetsformel, die auf
Augustinus zurückgeht, lautet: „Fecisti nos ad te, et inquietum est cor nostrum,
donec requiescat in te.“ („Du hast uns zu dir hin geschaffen, und unser Herz ist
unruhig, bis es ruhet in dir.“)
Will man dem gerecht werden, dass die Orientierung des Betenden von sich weg auf
ein Anderes geht, dass das Beten einen externen Fokus hat, muss man eigentlich
von ,Kontemplation‘ statt von Meditation sprechen. Das hebt die eben
beschriebene meditative Komponente des Betens, der Einkehr in sich selbst, nicht
auf. Ebenfalls von Augustinus stammt die Formulierung: „Noli foras ire; in te
ipsum redi: in interiore homine habitat veritas.“ („Geh nicht nach draußen; geh
in dich selbst zurück: im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“) Der Meditation
im Hinduismus/Buddhismus (aber auch im Jainismus und im Daoismus) entspricht in
der abendländischen Glaubensgeschichte also zweierlei: Neben die Komponente der
Versammlung in sich, die Meditation, tritt die Komponente der Kontemplation, des
Hinsehens auf etwas, das außerhalb ist. Weitere Bedeutungen des Wortes sind
,Nachdenken‘, ,Versenkung‘. Wo im Mittelalter ausdrücklich von meditatio die
Rede ist, wie zum Beispiel bei Hugo von St. Victor (1096–1141), ist diese nach
der cogitatio die zweite Vorstufe zur contemplatio, auch visio intellectualis
(Bewusstseinsschau) genannt, welche allein die höchste Wahrheit, Gott, zu
erfassen vermag.
Was hat es mit der Kontemplation auf sich? Das Nomen leitet sich von dem
lateinischen Verbum contemplari ab, das soviel wie ,sein Augenmerk auf etwas
richten‘, ,etwas betrachten, berücksichtigen, bedenken‘ heißt. Die Etymologie
gibt dazu noch ein aufschlussreiches Detail her. Das lateinische Wort gehört als
Präfixableitung zu templum, was nicht nur unserem ,Tempel‘ entspricht, sondern
auch ,Beobachtungsbereich‘ heißt, denn der ,Tempel‘ war ursprünglich nichts
anderes als der „Ort zur Ausführung der Vogelschau“. Diese letzte Bemerkung
bezieht sich auf die Tätigkeit, die zu den Amtspflichten bestimmter Priester,
der Auguren (Vogelschauer), gehörte: aus dem Auftauchen von Vögeln im
Beobachtungsraum und ihrer Flugrichtung darin eine Vorhersage zu der jeweils in
Frage stehenden Entscheidung zu machen. Das templum, der sakrale Raum, war somit
objektiv, d. h. durch Gegenstände im Wahrnehmungsraum (eine Dachlinie, eine
Gebäudekante, ein Baum) definiert – wobei die subjekthafte Perspektivierung, die
Bezogenheit des sakralen Raumausschnitts auf die Position des Subjekts der
Wahrnehmung, jetzt hier, stillschweigend vorausgesetzt war.
Eben das, die objekthafte Besetzung des Wahrnehmungsraums, hatte sich im
Übergang vom altrömischen Götterkult zum Christentum geändert. Das templum war
nun der Innenraum des Menschen selbst. Damit deutet sich das Dilemma der
mittelalterlichen ,Gottesschau‘ an, in der meditatio und contemplatio sich
mischten. Der Vorstellungsraum bzw. Erkenntnisraum, in dem wir Gottes
innewerden, liegt in uns, die Position aber, die Gott auf Grund seines
Schöpfertums, seiner Allmacht und Unvergleichlichkeit einnimmt, ist die denkbar
fernste Ferne, das entlegenste dort. Der Name dafür: Jenseits (d. h. auf jener,
der anderen Seite). Sich Gott zu nähern, bedeutete also beides auf einmal: bei
sich (in sich) zu sein und zugleich so weit von sich selbst wegzublicken
(wegzugehen), dass man alles Irdische übersteigt.
Was für Vorgänge im Menschen-Inneren sind das, die sich bei einem solchen
Glaubenshandeln vollziehen? Was daran ist Bewusstsein, was Gefühl? Was tut die
,Seele‘, was der ,Geist‘? Inwieweit ist der Wille, die voluntas, beteiligt, und
kann von einer Beteiligung des Leibes überhaupt die Rede sein? Ist die
meditative Komponente der Gotterfahrung mehr für die Emotion, die kontemplative
mehr für die Kognition zuständig oder umgekehrt? Fragen über Fragen, einige, z.
B. die nach der Natur des ,Geistes‘, haben sich beharrlich gehalten.
Die Epoche, in der diese Fragen erzeugt wurden, ist denn auch dadurch
gekennzeichnet, dass die Klassifizierungen und Schematisierungen des
menschlichen Innenlebens sich vervielfachten. Eine an der griechisch-römischen
Philosophie geschulte Vernunft arbeitete sich daran ab, mosaisch-christliche
Mythenbildung formal-logisch zu bewältigen, ihre Aussagen widerspruchsfrei zu
machen – und das in der ständigen Gefahr, sich dem Vorwurf der Häresie
auszusetzen und in die Hände der Inquisition zu fallen.
Zwei Aporien waren es vor allem, denen die mittelalterlichen Theologen sich
gegenübersahen. Die eine ergab sich aus dem oben beschriebenen
Orientierungsproblem, das andere, ein Präzisierungsproblem, aus einer Eigenart
der mosaisch-christlichen Religion, die sie auch von der anderen großen
Offenbarungsreligion, dem Islam, unterscheidet: Die ad verbum offenbarten Texte
des Alten und Neuen Testaments bestehen nur zu einem geringen Teil aus
Handlungsanweisungen, Gesetzen oder Regeln, Geboten oder Verboten, haben
stattdessen eine ausgeprägte narrative Komponente. Sie erzählen uns eine
Heilsgeschichte, die in wesentlichen Teilen als Familiengeschehen inszeniert
ist. Dabei bleibt die Spaltung in Diesseits und Jenseits, in Nähe-Bereich und
Ferne-Bereich, erhalten. Denn die Hauptrollen ,Vater‘ und ,Sohn‘ sind jeweils
doppelt, göttlich und menschlich, besetzt. Gottvater ist nicht nur Schöpfer der
Welt und der Menschen darin, sondern zugleich Vater der Menschenkinder. Als
solcher ist er ihnen in ,Güte‘, ,Liebe‘ und ,Barmherzigkeit‘ zugetan. Aber die
familiäre Relation ist schon bei der ersten Kindesgeneration gestört. Adam und
Eva müssen das Paradies verlassen, weil sie die Diesseits-Jenseits-Grenze nicht
respektiert haben und der Versuchung, sein zu wollen „wie Gott“, erlegen sind.
Fortan leben sie ,in Sünde‘, aus der sie nur kraft göttlichen Waltens erlöst
werden können. Der Erlöser, Christus, ist zugleich Gottessohn und Menschensohn.
Über seine irdische Mutter, die Menschenfrau Maria, kommt Leiblichkeit ins
Spiel. Aber Gott-Vater kann nicht Menschenvater sein, die Zeugung Christi muss
geistig vor sich gehen. Christus hat in den Menschenkindern einerseits seine
Brüder und Schwestern, ist aber andererseits deren Gott und Richter beim
,Jüngsten Gericht‘.
Die mittelalterliche Theologie hat die Spaltung in Diesseits und Jenseits, den
Widerspruch zwischen Glaubensanspruch und rationaler Vernunft, auf verschiedene
Weise bearbeitet. Einer der Lösungsversuche, der wohl radikalste, der in den
sogenannten Universalienstreit mündete, bestand darin, die menschliche Sprache
insgesamt zur Gottessprache zu machen, indem man den metaphysischen Inhalten,
die darin auszudrücken waren, den Vorrang einräumte – man kann auch sagen: indem
man die gemeinsame menschliche Sprache der metaphysischen Spekulation opferte.
Die Vertreter dieser Sprachtheorie konnten auf die platonische Erkenntnislehre
zurückgreifen, die den Allgemeinbegriffen einen höheren Grad von Wirklichkeit
zusprach als den Einzeldingen. Da Gott, wie das Mittelalter ihn zu denken
versuchte, der oberste aller denkbaren Allgemeinbegriffe (universalia) war,
musste ihm auch der höchste Grad an ,Wirklichkeit‘ zugeschrieben werden. Daraus
folgte, dass auch alle denkbaren ,guten Eigenschaften‘, die einem Wesen
zugeschrieben werden konnten, in Gott ,Realität‘ waren. Diejenigen Philosophen,
die dem widersprachen und darauf bestanden, dass auch die Allgemeinbegriffe nur
,Worte‘ waren, wurden ,Nominalisten‘ genannt. Aus ihrem Einspruch gegen die
Metaphysierung der Sprache, aus der ,Nominalismus‘-Position also im
Universalienstreit, vertreten von Männern wie Roger Bacon (etwa 1214–1292), Duns
Scotus (1270?–1308?) und Wilhelm von Occam (gest. 1347 in München), entwickelte
sich ein erster Vorschein von Aufklärung in Europa.
Eine andere Reaktion auf die Aporien der Theologie ist die der sogenannten
Mystiker. Die meisten von ihnen sind selbst Theologen oder Ordensleute, aber was
sie als mystisch erlebte Wahrheit verkünden, ist nicht einheitlich. Immerhin,
fast alle verzichteten sie auf eine weitere Zuspitzung des formal-logischen
Diskurses und setzten auf andere Sprachverwendungen und Textsorten. Zumal die
Formen der übertragenen Rede (Allegorie, Metapher, Bild etc.) erhielten eine
größere Bedeutung. An die Stelle der Gottesbeweise setzten sie die Beschreibung
und Bezeugung von Erfahrungen mit Gott und stellten diese in den Dienst der
seelsorgerischen Unterweisung. Die höchste, die intensivste Form der Begegnung
mit Gott wird als unio mystica beschrieben. Ein Beispiel für diese Art von
Gottbegeisterung, einer solchen Gottes-Poesie, ist das Werk der Mechthild von
Magdeburg (1208?–1282). Es umfasst sieben Bände und trägt den Titel: „Das
fließende Licht der Gottheit“. Anknüpfend an Bibeltexten, zumal an solchen, die
ihrerseits bereits bildhaft-metaphorisch sind, feiert sie die Gotteserfahrung in
aller emotionalen Farbigkeit und psycho-physischen Intimität. So wird das „Hohe
Lied“ Salomos zitiert, um die mystische „Vermählung“ der Kirche bzw. der
Einzelseele mit dem „Bräutigam Christus“ zu beschreiben.
Noch einmal anders, grundsätzlicher und systematischer, konfrontierte sich der
bedeutendste mittelalterliche Mystiker deutscher Sprache, Meister Eckhart
(1260?–1328), der scholastischen Theologie seiner Zeit. Sein Lebenslauf ist
exemplarisch für den eines Häretikers, der keiner sein wollte. Als Sohn des
Ritters Eckhart von Hochheim in Thüringen geboren, trat er schon früh in den
Dominikanerorden ein, studierte in Erfurt und – wahrscheinlich – auch in Köln,
wo er möglicherweise mit Albertus Magnus in Beziehung gekommen ist. Er siedelte
nach Paris über, wo er zuerst Student, dann Lektor war. Nach einer Zeit als
Prior des Erfurter Dominikanerklosters und Vikar der Ordensprovinz Saxonia
(1303–1310) übernimmt er ein zweites Magisterium in Paris – eine Ehre, die vor
ihm nur Thomas von Aquin zuteil geworden war. Es folgt eine Zeit als
Generalvikar der Dominikaner in Straßburg (1314–1322), bis Eckhart schließlich
an seiner alten Ausbildungsstätte, in Köln, die Leitung des studium generale
übernimmt. Dort ereilt ihn dann sein theologisches Schicksal, die Anklage wegen
Gotteslästerung. Überraschen kann dabei allenfalls, wie spät die Anklage
erfolgte, denn Eckharts Abweichung von der herrschenden Lehrmeinung war längst
unübersehbar.
Hier soll nur auf einen Aspekt davon eingegangen werden: die Vertiefung des
Meditativen in der Glaubenspraxis. Eckhart erreicht sie, indem er Sein und
Erkenntnis, göttliches Wirken und menschliche Glaubenserfahrung zusammenfallen
lässt. Um das zu ermöglichen, begreift er Gottes Wirken nicht als einen in der
Vergangenheit vollzogenen Schöpfungsakt, sondern als einen nicht endenden
Prozess, bei dem Gott sich in die Welt hineingibt. Gottes Entäußerung in seine
Schöpfung hat für Eckhart nicht aufgehört:
Gott erschafft die Welt und alle Dinge in einem gegenwärtigen Nun, und die Zeit,
die da vergangen ist vor tausend Jahren, die ist Gott jetzt ebenso gegenwärtig
und ebenso nahe wie die Zeit, die jetzt ist. Die Seele, die da steht in einem
gegenwärtigen Nun, in die gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn, und in
derselben Geburt wird die Seele wieder in Gott geboren.
Eckhart intensiviert die Begegnung Gottes mit dem einzelnen Menschen auch darin,
dass er ihn als eine Einheit und nicht als eine Vielheit (Dreifaltigkeit)
erscheinen lässt. Die heutigen Interpreten scheinen sich in diesem Punkt nicht
ganz einig zu sein, aber es sieht so aus, als habe Eckhart sich dem
neuplatonischen Gottesbegriff angenähert, der die eine, ungeteilte Gottheit
betont. Diese begreift er als leer von allen göttlichen Eigenschaften. Er geht
tatsächlich so weit, von der Gottheit als einem „Abgrund des Nichts“ zu
sprechen. Die Haltung auf Seiten des Menschen, die ihn zur Begegnung mit dieser
Gottheit bereit macht, ist denn auch die, die Eckhart „Gelassenheit“ nennt. Er
meint damit die Bereitschaft loszulassen, preiszugeben, von seiner Ich-Besetzung
,leer‘ zu werden.
Es liegt auf der Hand, dass der rapport zwischen einem solchen Gott und dem
Gottsucher anders verläuft als von der Theologie der Scholastik beschrieben. Für
Meister Eckhart ist der einzige Ort der Begegnung mit dem Göttlichen der
„Seelengrund“, in dem der eine Gott immer schon war. Damit ist die
hier-dort-Spaltung, die jenseits-diesseits-Trennung aufgehoben, der Mensch, der
– im Sinne Eckharts – zu Gott findet, ist in sich angekommen. Indem er in Gott
ist, ruht er in sich. Am Ende von Eckharts berühmter Predigt, die unter der
Nummer 42 überliefert ist, heißt es:
Du sollst ihn lieben wie er ist ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine
Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie er ein lauteres, reines, klares
Eines ist, abgesondert von aller Zweiheit. Und in diesem Einen sollen wir ewig
versinken vom Etwas zum Nichts. Dazu verhelfe uns Gott. Amen.
Die Nähe dieses Verständnisses von Erlösung zum Buddhismus ist unübersehbar.
Dass eine solche Lehre den Vertretern der kirchlichen Hierarchie unerträglich
sein musste, erscheint nur allzu plausibel. Sie brachte den Einzelnen allzu
direkt mit seinem Gott in Verbindung, verzichtete daher auf den Machtanspruch
des herrschenden Dogmas, dämpfte die Zumutungen an die Vernunft. Von einem
Kollegen in Köln wird Eckhart 1325 angezeigt, seine Lehre als häretisch und
gotteslästerlich denunziert. Es kommt zu einem Inquisitionsverfahren, bei dem es
um Leben und Tod geht. Die Liste der beanstandeten Sätze (d. h. Aussagen zu
Inhalten kirchlicher Lehre) umfasst zuerst 49, wird dann auf 28 reduziert. Um
dem Scheiterhaufen zu entgehen, widerruft Meister Eckhart 1327 öffentlich. Damit
kann er nicht verhindern, dass 1329 immerhin 17 der inkriminierten Sätze als
häretisch verurteilt werden. Eckhart bleibt es erspart, das noch zu erleben. Er
stirbt 1328. Ob in Köln, an seinem Lehrort, oder auf einer Bittreise an den
päpstlichen Hof in Avignon, ist ungewiss.
Therapeutische Entspannungsübungen
Das Übungsheft für das autogene Training von Johannes Heinrich Schultz
(1884–1970), 1935 erschienen, setzt das in dem Buch Das autogene Training (1932)
theoretisch Erörterte in die Praxis um. Um diese geht es hier. Der Erfolg des
Übungsheftes wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg, zumal seit den 50er Jahren, immer
weiter an. Inzwischen ist es in fast alle europäischen Sprachen übersetzt. Die
Zahl der Publikationen zu dem Konzept des „autogenen Trainings“ geht in die
Tausende. Frei von jedem spirituellen Bezug, ist es heute wohl die am weitesten
verbreitete Anleitung zu einer, wie es im Untertitel heißt, „konzentrativen
Selbstentspannung“. Dass es gleichwohl den meditativen Übungen zugeordnet werden
kann, ergibt sich daraus, dass es auch hier um eine Veränderung des äußeren und
des inneren Befindens geht. Aus Erfahrungen mit der Hypnose entwickelt, hat es
sich in autodidaktischer Aneignung ebenso bewährt wie bei therapeutischen
Gruppensitzungen. Der zweiten Art der Anwendung hat das 1980 erschienene Buch
Autogenes Training aus der Praxis von Günther Krapf zum Durchbruch verholfen.
Für den hier ausgebreiteten Zusammenhang ist der Text von J. H. Schultz ein
vorzügliches Dokument – in seiner Wörtlichkeit. Er handelt von etwas äußerst
Komplexem, ja eigentlich von etwas Ungeklärtem, aber er tut das so, dass es –
dafür bürgt der Erfolg der schmalen Schrift – mühelos verstanden wird. Vor allem
die außen/innen-Opposition und ihre Funktion beim Meditieren wird so
anspruchslos wie einleuchtend in Sprache gebracht.
Theoretisch explizit und entschieden ist J. H. Schultz nur in einem Punkt:
„Autogenes Training (…) beruht auf dem Grundgesetz, dass der Mensch hier in
dieser Welt nicht aus zwei getrennten Teilen, einem irdischen Leib und einer
überirdischen Seele besteht, sondern ein einheitlich lebendiges Wesen, ein
beseelter Organismus ist.“ (Hervorhebung, wie auch in den folgenden Zitaten, im
Original, D. K.) Schultz vermeidet alle Begriffe der Psychoanalyse. Man muss
sich die Stellen, in denen er, jeweils nur beiläufig, auf den auch von ihm
angezielten „innerlichen“ Effekt der Entspannung zu sprechen kommt,
zusammensuchen: „In der Übung soll nie krampfhaft eine Einzeleinstellung
erzwungen oder gewaltsam festgehalten werden. V.P. (gemeint ist
„Versuchsperson“, D. K.) soll innerlich sich von einer zur anderen wenden,
gewissermaßen lässig in den Innenerlebnissen spazieren gehen und sie auf sich
zukommen lassen.“ Wo aber findet der „innerliche Spaziergang“ statt? Gleich zu
Beginn der Einführung ist von „geistiger Schulung“ die Rede, und wenig später
heißt es: „Die konzentrative Selbstentspannung des autogenen Trainings hat also
den Sinn, mit genau vorgeschriebenen Übungen sich immer mehr innerlich zu lösen
und zu versenken und so eine von innen kommende Umschaltung des gesamten
Organismus zu erreichen (…).“ Wenig später ist von „Selbstruhigstellung“ die
Rede, von der es heißt: „(…) und zwar nicht durch krampfhaftes ,Zusammennehmen‘,
sondern durch innere Lösung. Ärger, Heftigkeit, Angst – kurz die störenden
Gemütsbewegungen sind nur deshalb so mächtig, weil sie den ganzen Organismus
erschüttern.“ Und weiter: „Beherrscht ein Mensch die konzentrative Entspannung,
so kann er im Angstaugenblick sich selbst innerlich lösen. Aus dem
überwältigenden Organismus-Sturme des Angstgefühls wird ein blasser
Angstgedanke, mit dem man fertigwerden kann; es hat eine Selbstruhigstellung
durch Resonanzdämpfung des Affekts, der Gemütsbewegung stattgefunden.“
Jede der sechs Übungen ist einem bestimmten Organsystem bzw. einem
Funktionsbereich des Körpers zugeordnet: Muskeln, Blutgefäße, Herz, Atmung,
Organe im Bauchbereich, Kopf. Schultz betont, mehr noch als andere
Meditationslehren, dass die Aufmerksamkeit sich jeweils auf einen relativ
kleinen Wahrnehmungsbereich konzentrieren müsse, um wirksam zu sein. Daher sein
Hinweis, dass es falsch wäre „mit dem ganzen Organismus zu üben, weil dann die
Konzentration ein zu großes Feld hat.“ Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Die Übungsvorgaben sind so kurz wie prägnant: „Der rechte (linke) Arm ist ganz
schwer“, „Arme und Beine sind ganz warm“, „Herz schlägt ganz ruhig und kräftig“,
„Atmung ganz ruhig, es atmet mich“, „Sonnengeflecht strömt ruhig und warm“,
„Stirn angenehm kühl“. Zwischen diese selektiv zielenden Vorgaben, die jeweils
sechsmal zu wiederholen sind, ist eine immer gleiche überleitende Formel
eingefügt, die jeweils nur einmal zu sprechen ist: „Ich bin ganz ruhig.“ Während
in den körperbezogenen Vorgaben das ich bzw. mein implizit bleibt, ist es in der
überleitenden Formel mitzusprechen: „Ich bin …“
Wer spricht hier zu wem?
Bei diesen Übungen zur „Selbstentspannung“ wird Sprache in einer merkwürdigen
Art und Weise verwendet. Offenbar hat sie immer noch mit Hypnose zu tun, denn
das Suggestive in den Vorgaben ist unüberhörbar. Aber der Hypnotiseur ist hier
der Übende selbst. Autosuggestion? Oder wirkt der Glaube an die
Entspannungslehre als Über-Ich? Bleiben wir bei dem, was sprachlich manifest
wird. Zweifellos handelt es sich um eine Art des inneren Sprechens, aber eine,
die nicht dialogisch, nicht als Anrede an unser alter ego, inszeniert ist. Dafür
tut eine andere Differenz sich auf. Sie ergibt sich zwischen der Position des
inneren Sprechers und dem Bereich, auf den die Aufmerksamkeit gelenkt werden
soll. Wo liegt dieses dort, auf das wir uns jeweils konzentrieren sollen? Die
Antwort scheint einfach: In unserem Körper natürlich. Aber sonderbar, man müsste
doch meinen, dass nichts uns näher ist als unser eigener Körper; trotzdem
imaginieren wir den jeweils aufgerufenen Körperteil als außen, d. h. zu einem
Bereich gehörig, der zu der Instanz in uns, die diese Anweisungen gibt, in einer
anschaulichen Opposition steht.
Etwas anderes geschieht bei dem Befehl „Ich bin ganz ruhig“. Hier ist die innen/außen-Trennung
aufgehoben, eine Figur deutet sich an, bei der die Sprecher-Position (innen) die
Mitte eines Wahrnehmungsraumes bildet, der sie rings umgibt und der sich mit dem
Fortschreiten der Entspannung immer mehr zusammenzieht. Aber warum, so möchte
man fragen, arbeitet das „autogene Training“ nicht ausschließlich und von Anfang
mit dem Befehl: „Ich bin ganz ruhig“, wenn damit doch das letzte Ziel der
Übungen direkt angesteuert wird? In der Antwort, die J. H. Schultz darauf gibt,
scheint mir eine exakt beobachtete Selbsterfahrung zu liegen, die auch andere
Meditationslehrer geäußert haben: Weil bei dieser Vorgabe „die Konzentration ein
zu großes Feld hat“. Entspannung, so kann man daraus folgern, will vorbereitet
und eingeleitet werden – von dort aus, wo die Verhältnisse der (Selbst)Erfahrung
am übersichtlichsten sind: im Körperlich-Sinnlichen.
Eben diesem Ziel dient noch eine andere Strategie des autogenen Trainierens. Der
Organbereich, den wir mit jedem einzelnen Befehl ansteuern, soll für uns in
möglichst großer Intensität spürbar sein. Am besten isolierbar und am
deutlichsten wahrnehmbar ist sicher der Atem, den wir als einen selbständigen
Prozess, als Atemgeschehen, erleben. Das gilt, wenn auch nicht in der gleichen
Evidenz, für den Herzschlag. Atem und Herzschlag sind denn auch in allen
meditativen Praktiken die bevorzugten Konzentrationsziele.
Aber auch unsere ,Extremitäten‘, Arme und Beine, scheinen sich in einer guten
Beobachtungsdistanz vom ,inneren Wahrnehmungszentrum‘ zu befinden. Ein Arm, ein
Bein, eine Hand, ein Fuß können mit der „Wärme“- oder „Schwere“-Vorgabe
zielgenau angesteuert und zu einer zustimmenden Reaktion bewegt werden. Heikel
ist die Konzentration auf „die Bauchorgane“, die über die Imagination des
„Sonnengeflechtes“ erreicht werden sollen. Schulz empfiehlt denn auch, sie
vorstellungshaft mit dem Atem in Verbindung zu bringen: „Die Phantasie, als
ströme der Atem beim Ausatmen in den Leib, kann helfen.“ Dasselbe gilt für den
„Kopfbereich“, der in der Stirn, genauer: in der Wahrnehmung der Stirnhaut
aufgesucht wird. Der Hinweis, wie die Stirn spürbar gemacht werden kann: „Da die
Hauswände nicht luftdicht sind, bewegt sich die Luft überall. Deshalb wird die
,Stirnkühle‘ meist als ,kühler Hauch‘ erlebt, der ,Geisterhauch‘ gläubiger
Spiritisten.“ Schultz merkt zwar an, dass dem Gehirn physiologisch-faktisch eine
besondere Rolle beim autogenen Training zukommt, da ja alle Einstellungen von
dort aus vollzogen werden, leitet daraus aber keinen Unterschied für die
Selbstwahrnehmung ab. So machen wir bei der Kopf-Übung nicht etwa eine
Erfahrung, die ,innerlicher‘ wäre als die anderen Wahrnehmungen an unserem
Körper. Alles, worauf wir uns konzentrieren sollen, sind körperliche
Wahrnehmungen an verschiedenen Stellen. Auch die wahrgenommenen
Gefühlsqualitäten, Schwere, Wärme, Kühle, mögen verschieden sein, aber sie
bewirken jeweils dasselbe, und nur ihre kumulierende Wirkung ist bedeutungsvoll
für die erwünschte Veränderung unserer Gesamtverfassung. Diese aber, so konnte
J. H. Schultz klarmachen, vollzieht sich in einer Bewegung – fast möchte man von
einer Wellenbewegung sprechen –, die von außen nach innen läuft.
Das Angebot des Zen
Zen, die japanische Variante des Buddhismus, wird von den Japanern selbst mit
vielerlei Übungen in Verbindung gebracht: der Teezeremonie, dem Blumenstecken,
dem Bogenschießen, dem Stockfechten, dem Tuschpinsel-Zeichnen, dem Haiku-Dichten.
All das sind Wege, die man auf der Suche nach der Erfahrung der ,Leere‘
beschreiten kann. Aber auch jede triviale Tätigkeit des Alltags, Saubermachen,
Kochen, Geschirrspülen, den Garten umgraben, den Gartenweg fegen, kann uns dem
Ziel näher bringen – unter einer Voraussetzung: dass wir ganz bei der Sache
sind. Ein Ratschlag dazu lautet: „Wenn du gehst, gehe, wenn du sitzt, sitze!“
Daisetz Teitaro Suzuki, der bisher bedeutendste Mittler zwischen Japan und dem
Westen, hat versucht, die Voraussetzungen für satori, die Zielerfahrung des Zen,
so zu beschreiben, dass sie Menschen des ,Westens‘ verständlich werden kann.
Wenn er „wir“ sagt, meint er „alle Menschen“. Andererseits gilt: Auch in den
Worten, die D. T. Suzuki für die allgemeine Menschlichkeit findet, zeigt sich
viel von der Eigenart japanischen Denkens:
Gemeinhin sind wir der Auffassung, Philosophie sei eine Sache des reinen
Intellekts, und die beste Philosophie komme daher aus einem Kopf mit den
reichsten Anlagen an intellektuellem Scharfsinn und dialektischem
Unterscheidungsvermögen. Aber das ist nicht der Fall. (…) Hinzukommen muss eine
starke Vorstellungskraft, hinzukommen muss die unbeugsame Kraft des Willens,
hinzukommen muss die tiefe Einsicht in die Natur des Menschen, und endlich auch
muss der unbeirrbare Blick für die Wahrheit da sein. (…) Ich möchte dieses Bild
vom ,Blick‘ für die Wahrheit, vom ,Sehen‘ der Wahrheit ausdrücklich betonen. Es
genügt nicht zu ,wissen‘, wie man dieses ,Sehen‘ gewöhnlich versteht. Wissen ist
oberflächlich, solange es sich nicht mit persönlichen Erfahrungen verbindet (…).
Über welches Wissen auch immer der Philosoph verfügen mag, es muss aus seiner
Erfahrung stammen – und Erfahrung heißt: ,sehen‘.
Die Kopplung von irgendeiner körperlichen Tätigkeit (Haltung) und dem mentalen
Prozess, der zur ,Erleuchtung‘ führt, verbindet Zen mit anderen Lehren der
Meditation. Das Besondere des Zen (vergleichbar darin dem tibetischen Lamaismus)
ist die Tendenz, den Vollzug der meditativen Übungen stärker zu betonen als das
Ziel. Satori, wenn es sich denn ergibt, wird angenommen, als habe es sich
ungewollt ergeben, jedenfalls nicht aus dem Bewusstsein heraus, allenfalls an
ihm vorbei. So wird denn auch das Plötzliche, Sprunghafte seines Eintritts in
den Vordergrund gerückt, das Aussetzen der Kontinuität. Vom inhaltlichen Wissen,
von Bewusstseinsinhalten welcher Art auch immer, führt kein Weg dorthin. Das
eine muss enden, wenn das andere geschehen soll.
Dieser Nicht-Zusammenhang ist leichter zu erzählen als diskursiv zu erörtern.
Daher sollen hierzu zwei Ur-Anekdoten wiedergegeben sein. Die erste zielt auf
die Nicht-Begrifflichkeit der Erleuchtung:
Als Bodhidarma, der erste Zen-Patriarch, auf seiner Wanderung von Indien nach
Osten zu endlich nach China kam, wurde er von dem Kaiser Wu aus der
Liang-Dynastie, einem frommen Buddhisten, ausgezeichnet in den buddhistischen
Tugenden der Mildtätigkeit und Nächstenliebe, schon sehnlichst erwartet. Der
Kaiser hoffte, von ihm eine Antwort auf die dringlichste seiner Fragen zu
erhalten. Als Bodhidharma endlich an seinem Hofe eintraf, bat er ihn gleich zu
sich. „Die Sutras“, sagte der Kaiser, „verweisen immer wieder auf die höchste
und heiligste Wahrheit – aber was ist das, ehrwürdigster Meister?“ Bodhidharma
sagte: „Unermessliche Leere und nichts von Heiligkeit darin.“ Der Kaiser: „Aber
wer seid dann Ihr, der hier vor mir steht, wenn es nichts Heiliges gibt und
nichts Hohes in der unermesslichen Leere der höchsten Wahrheit?“ Die Antwort:
„Ich weiß es nicht.“
Die zweite Ur-Anekdote bezieht sich auf die Plötzlichkeit von satori und deutet
an, was für eine Veränderung der Erfahrung von Welt, was für eine andere
Qualität Wahrnehmung es mit sich bringt:
Der Zenmeister Rakan Osho, der im 9. Jahrhundert n. Ch. in China lebte, erzählt
von sich selbst folgende Geschichte seiner Erleuchtung: Seit ich das Studium des
Tao (der chinesischen Vorstufe des Zen) aufgenommen hatte, verstand ich nichts.
Überall stieß ich auf Worte, aber sie bewirkten nichts als Zweifel. Drei Jahre
hauste ich unglücklich in den Wäldern am Strom. Dann traf ich unerwartet den
Dharmaraya (= Zenmeister), der, in Meditation versunken, auf einem Teppich am
Ufer saß. Ich ging auf ihn zu und bat ihn, meine Zweifel zu zerstreuen. Er stand
auf, streifte den Ärmel seiner Robe zurück und versetzte mir einen Faustschlag
gegen die Brust. Das zersprengte den Klumpen meiner Zweifel. Ich hob meinen Kopf
und sah zum ersten Mal, dass die Sonne rund war, eine Kugel.
Plastisches Sehen – auf einen „Schlag“ hat die Wahrnehmung sich verändert. Die
Deutlichkeit ist in eine andere Dimension gesprungen. Mit diesem Verständnis von
satori hängt zusammen, dass bereits bei der meditativen Praxis die körperlichen
Bedingungen eine große Rolle spielen. Das jetzt hier ist im Zen so
bedeutungsvoll wie bei keiner anderen Erlösungssuche. Die Oppositionen hier/dort
und außen/innen treten in den Hintergrund. Wenn der Meditierende von seinem
Meister aufgefordert wird, Vorgänge in seinem Inneren zu beobachten, dann soll
er dabei lernen, sie zur Ruhe zu bringen, weil sie ihn beim Meditieren
behindern. Von Belang sind sie nicht. Sitzen ist Sitzen. Es stellt eine
körperliche Herausforderung dar. Das Bemühen, richtig zu sitzen, ist Mühe genug.
Sitzen soll hart sein, und wenn es dabei kalt ist, umso besser!
Zazen findet im Lotos-Sitz statt oder im halben Lotos-Sitz oder im Fersensitz
oder in einer Variante, die Burmesischer Sitz heißt. Wenn körperliche Handicaps,
Einschränkungen der Beweglichkeit, eine gute Sitzhaltung unmöglich machen, kann
auch ein Sitzkissen, eine Matte, ein Schemel, eine Meditationsbank benutzt
werden. Wenn irgend möglich, sollen die Knie Bodenkontakt haben. Der Rumpf soll
aufgerichtet sein, die Statik säulenhaft stabil. Die Hände hält man am besten
knapp unter Nabelhöhe, wobei eine Hand sich in die andere wölbt und die
Daumenspitzen sich berühren. Erwünscht ist, die Extremitäten so weit wie möglich
in die Nähe des Körperzentrums, o-naka, zu bringen. Die Frage der Blickrichtung
ist offen. Während eine Schule des Zen vorschreibt, mit dem Gesicht zur Wand zu
sitzen, platziert eine andere den Übenden mit dem Rücken zur Wand. Der
Unterschied ist erheblich, aber nicht entscheidend. Weder soll man in sich noch
in der Außenwelt versinken. Die Augen sind offen oder halboffen, aber man soll
vermeiden, umherzublicken oder etwas zu fixieren. Lange Zazen-Veranstaltungen
werden in den Klöstern von Gehmeditationen unterbrochen. Die Anstrengung des
Aufrechtsitzens, die Knieschmerzen des Anfangs gehören dazu. Sie werden nicht
verdrängt, aber auch keiner besonderen Beachtung wert gefunden.
Die Selbstbeobachtung geht zuallererst auf den eigenen Körper, zumal den Atem.
Die Interferenzen von körperlichen Empfindungen und den Aktivitäten des
Bewusstseins werden beachtet und bearbeitet. Mit Ablenkungen wird gerechnet, ihr
Abklingen mit Geduld erwartet und gelassen zur Kenntnis genommen. Wenn
Schwierigkeiten eines Schülers mit dem Meister zu besprechen sind, geht es nicht
um allgemeinen Erkenntnisgewinn, sondern um den verbesserten Umgang mit den
Problemen, die jetzt hier anstehen. Ein beträchtlicher Aufwand wird damit
getrieben, den Bewusstseinsstrom zu dämmen, den Gedankenfluss zur Ruhe kommen zu
lassen. Offenbar rechnet Zen hier mit besonders hartnäckigen Störungsquellen.
Eingeräumt scheint zu sein, dass die Meditationsvorgabe des ,Sitzens‘ nicht
immer ausreicht, die rastlosen Verknüpfungen in unserer mentalen Tätigkeit
anzuhalten. Hierzu hat Zen eine geniale Praxis entwickelt. Der Lehrer gibt
seinem Schüler eine Denkaufgabe (koan), für die es keine rationale Lösung gibt,
z. B.: „Was ist das Geräusch des Klatschens mit einer Hand?“ Angeblich gibt es
in jedem Kloster und in jeder Zen-Schule viele solcher unlösbarer Fragen, aber
jeder Schüler bekommt vom Meister auch noch eine ganz besondere, für ihn
ausgewählte Frage zugeteilt. Es geht nicht darum, möglichst schnell damit fertig
zu werden, entscheidend ist, dass der Schüler die Unabweislichkeit erlebt, die
Gedankentüftelei hinter sich zu lassen.
Und das Ziel?
Wie immer satori erlebt werden mag, in jedem Fall ist es das Leerwerden von
allen Denkinhalten, allen Ich-Einmischungen in das sich öffnende (transzendierende)
Bewusstsein. Satori ist nicht endgültig. Der Gewinn, das Glück, das Freisein,
das es bringt, wird immer wieder aufgezehrt – wie der Inhalt einer Reisschale.
Trotzdem ist das erste satori etwas, dessen Wirkung nie ganz vergeht. Als habe
man einen Geruch wahrgenommen, der auch dann in der Nase bleibt, wenn die
Geruchsquelle längst versiegt ist.
Kommen wir noch einmal auf die anderen Zen-Künste zurück, die am Anfang dieses
Teilkapitels aufgezählt worden sind. Kein Zweifel besteht daran, dass sie alle
geeignet sind, einen bei einer Sache zu halten, bei einer Tätigkeit, bei der man
immer mehr zur inneren Ruhe kommen kann. Zwei davon bilden eine gewisse
Ausnahme: Stockfechten und Bogenschießen. Es wäre ein Missverständnis,
anzunehmen, dass es hier um so etwas wie Kampfsport oder Konkurrenz geht. Auch
Stockfechten und Bogenschießen sind Meditationsübungen, bei denen das
Entscheidende nicht die Aktion, jedenfalls nicht sie allein, im Vordergrund
steht. Vielmehr ist es so, das die vorbereitenden Bewegungen – richtiger ist es,
von Zeremonien oder Ritualen zu sprechen – geeignet sind, die Meditierenden in
eine Verfassung völliger Entspannung und Ich-Leere zu versetzen, die sich dann
in die Aktion, den Schlag oder den Schuss hinein, fortsetzt.
Ein paar Anmerkungen zum Bogenschießen, das mit der Einbeziehung eines
Zielpunkts eine bedeutungsvolle Variante der Meditation darstellt. Derjenige,
der es in Europa bekannt machte, war Eugen Herrigel mit seinem – nicht
unumstrittenen – Buch Zen in der Kunst des Bogenschießens (1953). Herrigel, der
viele Jahre in Japan lebte und an der Universität Tokio lehrte, hat versucht,
den Abendländern das Besondere dieser „Meditation im Stehen“ über die Einführung
des Freudschen Begriff des „Es“ nahezubringen. Das über sehr lange Zeiträume
ausgedehnte Üben – der richtigen Bewegungen beim Instellung-Gehen, beim Halten
des Bogens, beim Atmen im Stehen, beim Anvisieren des Ziels bei gleichzeitiger
Beachtung der eigenen körperlichen Gefühle – hat nur einen Zweck: alle
Inanspruchnahme durch das Ich abklingen zu lassen, so dass die Erfahrung des
Schützen beim Entlassen des Pfeils in der Gewissheit geschieht: „Nicht ich
schieße, es schießt“. Offenbar geht auch davon eine meditative Wirkung aus, wenn
wir von uns weg sehen und etwas anderes fokussieren.
Ähnliches gilt für die Haiku-Dichtung, deren Grundgesetz darin besteht, nicht
das eigene Innere zu formulieren, sondern sich der Außenwelt in ihrer sinnlichen
Evidenz so weit zu öffnen, dass das Einmalige des jetzt hier sich in einem
sprachlichen Einfall entlädt. Das Ich geht auf in der einen, Mensch und Ding
gleichermaßen umfassenden Welt. Daher ist das Haiku-Dichten immer wieder mit
einem Fechthieb oder einem Bogenschuss verglichen worden.
Vielleicht ist es ja so, dass beide meditativen Praktiken, Konzentration im
Inneren und Fokussierung auf etwas außerhalb unserer selbst, ein und dasselbe
Ziel haben: den allzu raschen Wechsel der Ich-Ereignisse zu verlangsamen und
schließlich zum Stillstand zu bringen. Erst wenn Ich-Leere eintritt, beginnt das
Offensein für die Erfahrung des Ganzen, in dem wir aufgehen können.
Die existentielle Wucht gerade der Zen-Praxis, des zazen, ergibt sich aus der
körperlichen Anstrengung, die sie bedeutet. Von dieser Erfahrung gibt es
neuerdings ein Zeugnis, das von einer westlichen Erlösungssucherin stammt, einer
jungen Amerikanerin, Maura O’Halloran, die mit knapp vierundzwanzig Jahren in
ein japanisches Zen-Kloster eintrat. Sie wurde rasch die Meisterschülerin des
Abts. Sie meditierte entschiedener, tiefer als alle anderen im Kloster. Sie
erlebte satori früher als alle. Der Abt hatte sie zu seiner Nachfolgerin
ausersehen. Nach ihrem plötzlichen Tod widmete die Gemeinde des Tempels ihr eine
Statue, in der sie als „echte Inkarnation von Kannon bosatsu“ verehrt wird,
„gleichen Herzens und gleichen Geistes wie der Große Lehrer Buddha“. Von ihrem
Zenmeister, dem Abt, gibt es ein Beileidsschreiben an ihre Familie in den USA.
Darin hält er in kargen Worten fest, was sie gelebt, was sie erfahren hat:
Am 5. Januar 1980 um sechs Uhr dreißig brach sie (…) zum Kannon-ji in Yahaba-cho,
Iwate-ken, auf. Dreißig Tage lang, vom 6. Januar an, übte sie strengstes ,kan-shugyo‘
(asketische Übungen in der Kälte). In Morioka waren es minus zwanzig Grad, als
sie ihre Übungen vollzog. (…) Mein Meister Fuchizawa Chiaki sagte: ,Zen-Mönche
müssen jeden Tag zwanzig Stunden arbeiten und drei Stunden schlafen.‘ Genau das
tat Maura. Unser großer Meister Dogen ging nach China und zum großen Tendo.
Tausend Tage lang arbeitete er, und in der Nacht saß er in Meditation. Er
schlief zwei oder drei Stunden in sitzender Haltung. Maura tat das gleiche.
Maura O’Halloran selbst hat in ihrem Tagebuch festgehalten, wie sie sich nach
Erreichen der Erleuchtung gefühlt hat:
In der letzten Zeit bin ich lächerlich glücklich. Ohne Grund. Platze einfach vor
Freude. (…) Jetzt bin ich sechsundzwanzig und fühle mich, als hätte ich mein
Leben gelebt. Seltsames Gefühl. Fast, als wäre ich dem Tode nahe. Alle Wünsche,
Bestrebungen, Hoffnungen, die ich haben konnte, haben sich entweder erfüllt oder
spontan aufgelöst. Natürlich möchte ich tiefer gelangen, klarer sehen, aber wenn
es nur bei dieser armseligen, flachen Erleuchtung bliebe, wäre ich schon
zufrieden. (…) Alles scheint wunderbar. Selbst unerwünschte, leidvolle Umstände
haben eine schmerzhafte Schönheit und Erhabenheit. Daher habe ich in gewissem
Sinne das Gefühl gestorben zu sein; es gibt nichts mehr, was ich für mich selbst
erstrebe, nichts mehr, das mein Leben lebenswert macht oder rechtfertigt. Mit
sechsundzwanzig ein lebender Leichnam und so ein Leben! Es wäre mir peinlich, es
irgend jemandem zu erzählen, es klingt so wischi-waschi, aber ich habe jetzt
noch fünfzig oder sechzig Jahre (wer weiß?) Zeit. Leben, das offen ist, leer,
das ich anbieten kann. Ich möchte es für andere leben. Was kann man sonst damit
machen?
Ihre letzte Frage an sich selbst ist im Leben nicht beantwortet worden. Auf der
Rückreise in die USA, bei einer Pilgerfahrt in Thailand, kam Maura bei einem
Busunfall zu Tode.
Die Wucht der so gelebten alltäglichen Praxis lässt alles, was nicht jetzt hier
ist, schrumpfen. Das Ich dessen, der satori erlebt, wird leer. Was bleibt, ist
das reine Gewahr-Sein dessen, was da ist. Auch die Opposition innen/außen
erlischt. Keine metaphysischen Ansprüche, denen man Genüge zu tun hat, keine
Vision eines Jenseits. Erinnerung, die uns bindet, der Wehmutsort, die Herkunft,
Versäumtes, Schuld womöglich, die man dort hinterlassen hat, der Sehnsuchtsort,
auf den man zugeht, Zukunftshoffnung, Zukunftsangst, Partnerwünsche, Objekte der
Begierde, sogar die Geborgenheit in der Gemeinschaft mit den Menschen gleicher
Bestimmung – all das lässt man, wenn man sich auf den Zen-Weg begibt, hinter
sich.
Auch der Westen kennt ähnlich radikale Zielvorgaben, eine ähnliche Konzentration
auf das Koordinatenkreuz der Meditation. Der Wahlspruch des Nikos Katzantzakis
lautete: „Ich begehre nichts, ich fürchte nichts, ich hoffe nichts – ich bin
frei.“ Allerdings steht das auf seinem Grabstein (in Heraklion auf Kreta). Auch
die abendländische Moderne hat die Ambivalenz allen ,Strebens‘, allen Aufbruchs
in das nicht hier nicht jetzt reflektiert. Viele Äußerungen dazu sind mit dem
Namen Goethe verbunden. „(…) Da, wo du nicht bist,/ Da ist das Glück.“ „Wozu in
die Ferne schweifen!/ Sieh das Gute liegt so nah./ Lerne nur das Glück
ergreifen, denn das Glück ist immer da.“ – Die Zweideutigkeit der Faust-Parabel
gehört hierher: Der Faust des Teufelspaktes will verloren sein, wenn er zum
„Augenblick“ sagen wird, „Verweile doch, du bist so schön!“ Aber er weiß auch:
„Es irrt der Mensch, solang er strebt.“ Der erblindete Faust hört die Lemuren
sein Grab schaufeln – aber er hört in dem Grabgeräusch die Erfüllung seines
Lebens, die Vollendung seines größten Werkes, des „Deichbaus“, und will eben
diesen Augenblick als den einzig schönen festhalten. Verloren die Wette mit dem
Teufel? Der ewigen Verdammnis anheimgegeben? Aber nein, aber nein! Das
abendländische Streben aus dem jetzt hier hinaus wird als metaphysisch
akzeptables („erlösendes“) Motiv anerkannt. Die himmlische Einrede gegen den
Anspruch Mephistos formuliert die Ich-Projektion des Abendlandes: „Wer immer
strebend sich bemüht,/ den können wir erlösen.“ So hat die ,Weltgeschichte‘ denn
ihren Lauf genommen. Sie ist nicht von der Leere des Zen, sondern dem
Immer-Weiter, Immer-Mehr des Abendlands bestimmt. Auch die Geschichte des
modernen Japan.
Vorläufige Bilanz
Der Überblick über den Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Wahrnehmung in
der Meditation zeigt, dass die Wahrnehmung innen durch die gleichen sprachlichen
Prozeduren strukturiert wird wie die Wahrnehmung außen. Die Selbstverständigung
über körperliche Empfindungen („Übungen“) – nur um diese ging es hier – wird in
den gleichen sprachlichen Prozeduren vollzogen wie die Verständigung mit einem
externen Partner über sinnlich Wahrnehmbares. In dem Verhältnis des Sprechers
der Suggestivformeln zu den eigenen Gliedmaßen oder Organen lässt sich die hier/dort-Opposition
wiedererkennen.
Die menschliche Sprache hat offenbar nur ein Orientierungssystem ausgebildet,
das um die Origo organisierte. Die naturhaft vorgegebenen Dimensionen Zeit und
Raum bestimmen unsere Äußerungen über die sinnlich-anschauliche Erfahrung von
Welt. Sie ragen auch in die Organisation unseres ,Innenlebens‘ hinein.
Kapitel 4
Sinnliche Wahrnehmung und vorstellendes Bewusstsein
In diesem Kapitel geht es um einen diffus erscheinenden und daher wenig
erschlossenen Zusammenhang: Wie wir anschauliche Verhältnisse in unserem Inneren
abbilden (prozessieren). Das besondere Interesse gilt der Position des
,innerlich Wahrnehmenden‘ und wie sie den Raum der inneren Wahrnehmung
strukturiert – dem also, was man die ,Origo im Inneren‘ nennen könnte.
Eingesetzt wird jeweils bei Befunden der Erfahrungswelt, die auf ihre Prägung
durch den Sprechakt der Orientierung hin befragt werden. Der Text beginnt also
noch einmal von neuem – tastend. Die einzelnen Abschnitte darin bilden daher
keinen argumentativen Zusammenhang, vielmehr ist jeder einzelne ein Versuch,
Zugang zu dem Problem der perspektivierten Innenwelt zu finden. Sehr
verschiedene Bereiche werden angesprochen: Erfahrungen aus dem Sport, die
Verdopplung des Wahrnehmungsraums beim mobilen Telefonieren, die menschliche
Bereitschaft und Fähigkeit, sich so in einen anderen hineinzuversetzen, dass man
das, was man den anderen erleben/erleiden sieht, selbst zu erleben/erleiden
meint, usf.
„Sich an einen anderen Ort versetzen“, „sich seine eigene Welt erschaffen“,
„sich etwas ausdenken, was es gar nicht gibt“ – soweit wir bis heute in
Erfahrung gebracht haben, tut das kein Tier. Was befähigt uns Menschen dazu, all
das zu tun?
Im Vergleich zu allen anderen Arten des Tierreichs, auch denen, die uns am
nächsten sind, haben wir eine Fähigkeit besonders ausgebildet: die, sinnlich
Wahrgenommenes in eine ,anschauliche‘ Verfassung zu überführen, die wir
,Vorstellung‘ nennen. Ein sprachlicher Ausdruck dafür, dass wir äußeres und
inneres Sehen parallelisieren, ist „das innere Auge“. Was wir damit sehen, kann
uns so farbig und lebhaft vorkommen wie etwas sinnlich Wahrgenommenes. Dass das
so ist, erscheint uns selbstverständlich. Aber was macht die Überführung von
Wahrgenommenem in Vorgestelltes möglich? Und weiter: Wie kommt es, dass wir
Elemente von Wahrgenommenem neu kombinieren und – kraft ,Phantasie‘ – in
Ereignissequenzen überführen können, die alles je Wahrgenommene hinter sich
lassen, ja den Naturgesetzen nach unmöglich sind?
Eine Antwort auf diese Fragen, die Physiologie, Psychologie, Philosophie und
Sprachtheorie gleichermaßen angehen, gibt es nicht. Das hat damit zu tun, dass
wir kein Rahmenmodell dafür haben, wie die einzelnen Faktoren unseres
Innenlebens zusammenspielen: sinnliche Affektion, Leib-Wahrnehmungen,
Bewusstsein, Speicherung von Erfahrungen, Wissensbestände, Abrufen von
Gespeichertem (Erinnerung), vitale Antriebe, reaktive Affekte, um nur die zu
nennen, die einen relativ großen Konsens darüber auf sich gezogen haben, dass es
sie gibt. Allenfalls eine Hypothese ist möglich – eine, die durch die Analyse
von Texten fiktionaler Literatur ebenso gestützt wird wie durch Erfahrungen der
Meditation: Bei der Verarbeitung von anschaulich Wahrgenommenem spielen
dieselben Orientierungen eine Rolle, die schon die Wahrnehmung selbst
strukturiert (perspektiviert) haben. Ja, es könnte sein, dass die subjekthafte
Perspektivierung, Ergebnis einer besonders folgenreichen Erweiterung der
Möglichkeiten menschlicher Kommunikation, die Prozessierung (Um-Kodierung)
sinnlicher Daten zu ,Vorstellung‘ überhaupt erst möglich macht.
Eine hinreichende Übereinstimmung besteht darüber, dass bei allen Formen der
Verarbeitung und Repräsentation von sinnlich Wahrgenommenem das ,Bewusstsein‘
eine Rolle spielt. Aber das Wort steht heute für sehr Verschiedenes. In seinem
Buch Was ist der Mensch? hat Michael Pauen vier Bedeutungsvarianten aufgezählt:
„bloße Wachheit“, „kognitives Bewusstsein“, „phänomenales Bewusstsein“ und
„Selbstbewusstsein“. Ich möchte dem eine weitere Unterscheidung hinzufügen:
,Bewusstsein‘ ist einerseits die Bezeichnung einer Tätigkeit oder eines
Prozesses (nomen actionis), andererseits Bezeichnung des Ergebnisses einer
Tätigkeit bzw. eines Prozesses (nomen rei actae). Eine Bezeichnung für die
Instanz, die diese Tätigkeit vollzieht (nomen auctoris), gibt es für den
Bewusstseinskomplex nicht – es sei denn, man weicht auf Bildungen aus wie „der
Denkende“, „der bewusst Handelnde“, „der Reflektierende“. Da die Prozessierung
von Daten sinnlicher Wahrnehmung zu vorstellungshaften Repräsentationen in
unserem Inneren ohne Bewusstseinstätigkeit nicht denkbar ist, da aber weder das
„kognitive“ noch das „phänomenale Bewusstsein“ diese Bedeutungsvariante
abdecken, verwende ich dafür im Folgenden den Begriff vorstellendes Bewusstsein.
Bezugspunkt bewegt
T. William Tilden, einer der größten Tennisspieler aller Zeiten und der erste,
der das Spiel methodisch reflektierte, hat folgenden Ratschlag für angehende
Tennisspieler als ersten und wichtigsten genannt: Keep the eye on the ball!
(Behalte den Ball im Auge!) Das erweist sich als einfach, solange der Ball weit
genug von uns entfernt ist. Aber der Rat bezieht sich besonders auf die
Bruchteile von Sekunden, in denen der Ball uns am nächsten ist, nämlich dann,
wenn unser Schläger ihn trifft. Angeblich gelingt es keinem Spieler, den Ball
wirklich auf dem eigenen Schläger zu sehen, d. h. ihn auch noch dann zu
fixieren, wenn er sich in die Saiten der Bespannung drückt. Die Augenbewegung,
die dazu fällig ist, müsste in einer Schnelligkeit geschehen, die das
Menschenmögliche übersteigt. Aber gute Tennisspieler kommen dem immerhin nahe,
und von manchen, zum Beispiel von Ken Rosewall, weiß man, dass sie diese
Fähigkeit eigens trainiert haben. Dass man als Amateur mit der Befolgung von
Tildens Rat Schwierigkeiten hat, könnte noch mit etwas anderem zusammenhängen:
dem Bedürfnis, das Spielfeld und den Gegenspieler darin nicht aus dem Blick zu
verlieren. Eben diesem Impuls folgen die sehr guten Spieler nicht, sie schlagen,
indem sie nur auf den Ball konzentriert sind, und man kann danach deutlich
sehen, wie ihr Blick sich, manchmal mit einer deutlich wahrnehmbaren ruckartigen
Kopfdrehung, dem Gegenspieler in einer neuen Orientierung zuwendet. Der
gelingende Schlag, den wir bewundernd zentimeter- oder wenigstens dezimetergenau
an der angezielten Stelle landen sehen, ist ,blind‘ geschlagen worden. Was macht
solche Leistungen der menschlichen Raumorientierung möglich? Ein gutes
Bildgedächtnis, könnte man zur Antwort geben, von dem das gegenüberliegende Feld
samt dem Gegenspieler einfach festgehalten wird. Aber diese Antwort wird der
Komplexität des Sachverhalts nicht gerecht. Der Schlag erfolgt ja erst eine
ganze Weile nach der letzten Fixierung des Spielfelds gegenüber, d. h. zu einem
Zeitpunkt, wenn sich die Position des Spielers darauf erheblich, um fünf, zehn
Meter oder mehr, verändert hat – und zwar so verändert, dass alle
Raum-Koordinaten sich in Bezug auf den Punkt, von dem aus der Schlag vollzogen
wird, verändert haben. Ja, es gibt Extremfälle, in denen der Schlag aus einer
krassen Desorientierung zu erfolgen scheint: etwa im Zurücklaufen nach einem
Lob, wenn der Schlag mit dem Rücken zum Netz, womöglich sogar zwischen den
eigenen Beinen hindurch ausgeführt wird. In solchen Fällen hat sich nicht nur
die Position besonders stark verändert, sondern es ist auch besonders viel Zeit
verstrichen zwischen dem letzten Fixieren des Spielfelds samt der Bewegung des
Gegenspielers darauf; trotzdem gelingen den besten Spielern selbst unter solchen
orientierungshaft ungünstigen Bedingungen noch erstaunlich viele erstaunlich
exakte ,Treffer‘.
Die einzige Erklärung, die bleibt: Der Tennisspieler, der das kann, hat die
Koordinaten des Spielfelds, einschließlich des Netzes in der Mitte, so genau in
seinem Gehirn gespeichert, dass seine Bewegung im realen Raum mit den
Verhältnissen des in seinem Inneren gespeicherten (vorstellungshaft präsenten)
Spielfelds exakt abgeglichen wird. Die Stelle, von der aus er den Ball ,blind‘
schlagen wird, entspricht der Stelle, die sein raum-zeitliches
Prozessierungsvermögen für die Stelle des Ballschlagens errechnet hat. Er
schlägt den Ball also so, als hätte er die Ecke des Spielfelds, in die er zielt,
real vor Augen.
Die Masse der dabei prozessierten Daten ist unglaublich groß. Die Zahl und Länge
der eigenen Schritte, die Winkelgrade aller Drehungen, die Geschwindigkeit aller
Bewegungen usf. gehen darin ein. Es ist, als verfüge der Spieler über beides,
ein GPS-System und einen Auto-Piloten. Aber der Vergleich mit technischem Gerät
bleibt unbefriedigend. Der Autopilot verfügt über einen auf den magnetischen
Nordpol geeichten Kreiselkompass, das GPS beobachtet den bewegten Körper von
außen – von drei verschiedenen Positionen gleichzeitig, nämlich drei stabil
positionierten Satelliten im Weltall. Der einzige Orientierungspunkt, über den
der Tennisspieler verfügt, liegt in ihm selbst – und er bewegt sich mit.
Ein anderes Beispiel aus dem Sport, das auf diese Form menschlicher
Intelligenzleistung, die vorstellungshafte (analoge) Prozessierung von komplexen
Bewegungsabläufen im Raum-Zeit-Kontinuum, verweist: das Mannschaftsspiel
Fußball.
In einem Interview mit dem Titel „Fußballer sind Konzertpianisten“ sagt der
Neurologe Hans-Peter Thier, Direktor des Hertie-Instituts für klinische
Hirnforschung in Tübingen, u. a. Folgendes:
„Ein Spieler muss ständig die Positionen der anderen Spieler und die Bewegungen
des Balles berechnen. Was Fußball ausmacht, basiert auf einem riesigen
Blumenstrauß an Hirnfunktionen … Die Leistung, die dem Gehirn beim Fußball
abverlangt wird, ist größer als beim Schach. Das Spiel fordert Logik und
Kombinationsgabe. Fußball ist vielschichtiger: Motorik ist gefragt,
Orientierung, Koordination, Aufmerksamkeit, Interaktion …“ Auf die Frage des
SPIEGEL, ob das heiße, dass Bastian Schweinsteiger „intelligenter“ sei als Gari
Kasparow, antwortet Thier: „Das kommt darauf an, wie man Intelligenz definiert.
Klar ist, dass Schweinsteigers Gehirn die anspruchsvollere Aufgabe lösen muss.
Man erkennt das zum Beispiel daran, dass ein Computer im Schach gegen einen
Menschen gewinnen kann, aber ein Fußball-Roboter ist selbst gegen einen
Achtjährigen chancenlos … Die koordinative Leistung eines Kickers ist nur mit
der eines Konzertpianisten oder Violinisten vergleichbar.“
Das Zitat weist auf einen Zusammenhang hin, der noch wenig erhellt ist und von
der Hirnforschung allein auch nicht aufgehellt werden kann. Auch Tiere haben
Sprache, sie benutzen Laute, wie wir Nennworte benutzen, nämlich als
Objektbezug, ja, sie können sich über Raumverhältnisse verständigen wie etwa die
Bienen durch den ,Bienentanz‘; aber sie beziehen sich dabei auf externe
Referenzobjekte, z. B. den Sonnenstand und die Distanz zwischen der Futterquelle
und dem Bienenstock. Nur eins tun sie nicht: sich auf sich selbst als
Referenzposition zu beziehen. Nur der Mensch, so muss man annehmen, hat sich zu
einem Subjekt der Wahrnehmung entwickelt.
Die ,Parteilichkeit‘ des Zuschauers beim Kampfspiel
Auch als Zuschauer bei agonalen Bewegungsspielen kann ich – an mir selbst – eine
ähnliche Beobachtung machen: Offenbar setzt sich meine Teilnahme aus
verschiedenen Komponenten zusammen. Da ist einmal meine Zurkenntnisnahme all
dessen, was zum Spiel, sei es Tennis, Basketball oder Fußball, als einem
geregelten Geschehen gehört. Dazu gehört die Beobachtung und Würdigung der
einzelnen Bewegungsabläufe, Spielzüge als gekonnt, effektiv etc. Diese Art der
Wahrnehmung und des Erlebens kann man phänomenbezogen nennen. Ich sehe und
erlebe, was geschieht, indem ich wahrnehme und erlebe, wie es geschieht. Aber
irgendwann mischt sich eine andere Komponente ein.
Das, was ich jetzt anzusprechen versuche, die Rolle des ,beteiligten
Zuschauers‘, wird vermutlich von jedem Einzelnen auf besondere Weise erlebt.
Unterschiede ergeben sich schon daraus, ob ich – nehmen wir das Tennis als
Beispiel – einen der beiden Spieler bereits vor dem Spiel besser kannte als den
anderen, ob und in welcher Intensität ich dem einen oder dem anderen den Sieg
wünsche. Aber gehen wir einmal davon aus, dass ich nicht schon als Fan in das
Spiel eingetreten bin, dass ich zu Beginn des Spiels neutral war, einfach nur
bereit und darauf aus, ein schönes Spiel zu sehen – zu sehen, „wie schön Tennis
sein kann“. Auch unter diesen Ausgangsbedingungen, behaupte ich, wird sich – bei
dem/der einen mehr, bei dem/der anderen weniger – eine andere, eine affektive
Beteiligung einmischen. Ich behaupte also, dass das Zuschauen bei einem Spiel
gegeneinander, einem Kampfspiel also, kein spannungsloser Zustand, sondern ein
zielgerichteter Prozess ist. Das Ziel: der Sieg des Spielers, den ich
favorisiere, oder eben, wenn es denn sein muss, dessen Niederlage. Meine
Parteilichkeit, behaupte ich, entfaltet sich mit dem Fortschreiten des Spiels,
schärft sich in dem Maße, wie das Spiel sich auf seine endgültige Entscheidung
hin zuspitzt. Mit dem Zunehmen der Spannung, die das Spiel aus seinem ihm
eigentümlichen Ablauf erzeugt (man denke an die kritische Stelle in jedem Satz
eines Tennisspiels, die beim Spielstand von 4:2 entsteht, vor dem siebenten
Spiel also, oder an die „big points“, wie sie etwa beim Stande von 30:40
ausgespielt werden), nimmt auch die Spannung in mir zu. Die Affekte, die in mir
wachgerufen werden, haben mit meinem Affekthaushalt zu tun, aber sie machen sich
an den Spielern fest – vor allem, behaupte ich, an einem von beiden.
Was geht dabei vor sich? Wie kommt es, dass ich – spätestens – im Verlauf des
Spieles in ein parteiisches Zuschauen hineingleite?
Kampfspiele leben vom Gewinnenwollen. Jeder der beiden Spieler will gewinnen,
jeder von beiden erlebt sein eigenes Spiel unter der Perspektive des
Sich-Durchkämpfens auf den Sieg hin. Die Strategien, Taktiken, die Raffinesse
des einzelnen Schlages, all das ist auf dieses Ziel hin gewählt und mit
größtmöglicher ,Genauigkeit‘, die nichts anderes ist als Zielstrebigkeit,
Siegstrebigkeit, ausgeführt. Das legt es auch mir, dem individuellen Zuschauer,
nahe, mich in diese Siegstrebigkeit einzufühlen. Theoretisch gäbe es die
Möglichkeit, diese Dynamik, die beim Ausspielen jedes einzelnen Punktes wirkt,
beidseitig mitzuerleben. Aber das würde bedeuten: in der Wahrnehmung der
Spieldynamik ständig umzupolen, die Zielstrebigkeit, die Konsequenz des auf den
Punktgewinn ausgerichteten Agierens bald von einer, bald von der anderen Seite
zu beobachten. Ich müsste, wenn ich das durchhalten will, das Spiel von den
Spielern entkoppeln. Ich müsste ein Spiel ohne Spieler sehen, ich meine: unter
Vermeidung aller Identifikation mit einem der beiden. Ich würde ein
unzusammenhängendes Spiel sehen – der Preis dafür, dass ich versuche,
un-emotional daran beteiligt zu sein. Ich würde, wenn ich mein Zuschauen auf
,Unparteilichkeit‘, auf eine Position außerhalb oder oberhalb des Geschehens
beschränke, das Spiel seines Sinns, seiner pragmatischen Funktion berauben:
seines spielerischen Ernstes. Es wäre dann nicht mehr das, woraufhin es
veranstaltet wird: der spielerische Probefall von Alles-oder-Nichts.
Der Schiedsrichter ist der einzige, dem eine solch entkoppelte Sichtweise
abverlangt wird, und die Linienrichter, die sich auf einen Ausschnitt des
Spielfelds konzentrieren müssen, sind ohnehin außerhalb der Position des
Zuschauers, zu der es gehört, das Ganze zu sehen.
Aber wie steht es dann mit meiner Fairness, der Fairness des Zuschauers, die den
Sieg des Spielers, mit dem wir sehen, nicht um jeden Preis, etwa um den einer
Fehlentscheidung, wünscht, die mich auch bei einem besonders guten Schlag des
Gegenspielers applaudieren lässt oder – das erst recht – bei dessen Sieg? Ich
kann mich dazu durchringen. Ich kann es ebenso, wie es ein Spieler kann oder
eben nicht kann. Wird doch dessen sportliche Größe daran gemessen, ob und wie er
bei aller Leidenschaft des Kampfs um den Sieg, seinen Sieg, die Leistung des
Gegenspielers zu würdigen weiß. Auch mir, dem einzelnen Zuschauer, wird
sportliche Größe abverlangt, wenn ich den Spieler, mit dem ich die Bewegungen
des Spiels wahrnehme und erlebe, verlieren sehe.
Was tue ich also, sprachanthropologisch gesehen, wenn ich in ein parteiisches
Sehen hinübergleite? Ich verweise den anderen Spieler in den Ferne-Bereich,
beziehe meine Position bei dem (in der Nähe des) Spielers, auf dessen Seite ich
mich geschlagen habe, und versuche, seine Blickeinstellungen mitzuvollziehen. Es
entsteht, so könnte man sagen, eine Beziehung, wie wir sie beim Lesen eines
Romans für die Hauptfigur entwickeln können.
Imaginatives Lernen
In ihren Lebenserinnerungen Fliegen mein Leben beschreibt Hanna Reitsch, die
erste weibliche Testpilotin, die erste Pilotin, die einen Hubschrauber in der
Halle flog und – das leider auch – eine der Starpilotinnen des NS-Regimes, wie
sie versuchte, ihre Zeit als Flugschülerin zu verkürzen. Es ging um
Segelfliegen, eine damals, in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, noch
sehr untechnische, sehr körperbezogene Sportart, zumal in der damals üblichen
Lernmaschine, dem offenen Hanggleiter. Sie war die einzige Schülerin in der
Gruppe und sah sich schon deshalb unter besonderem Leistungsdruck. Vielleicht
war sie besonders ehrgeizig und, das sicherlich, in spezieller Weise begabt,
nämlich darin, körperliche Bewegungsabläufe vorstellungshaft nachzuvollziehen.
Hanna Reitsch entwickelte für die Zeit, in der sie nicht am Flugbetrieb
teilnahm, aber doch weiterlernen wollte, eine Art Flugsimulator: Sie brachte
sich auf ihrem Bett mit Hilfe von Kissen und Decken in die halb sitzende, halb
liegende Position, in der sie beim Fliegen in dem offenen Gleiter festgeschnallt
war, mit den Füßen auf den zwei Pedalen, die das Seitenruder bewegen, und dem
Steuerknüppel zwischen den Knien. Stundenlang übte sie so die Bewegungen des
Kurvens, indem sie sich selbst die Kommandos gab und sie ausführte: Erstes
Kommando: „Kurve links einleiten!“ mit den dazugehörigen Bewegungen linkes Pedal
treten, Knüppel nach links drücken, zweites Kommando: „Kreisenlassen!“ usf. Das
übte sie besonders vor dem Einschlafen, also bei Dunkelheit, oder tags mit
geschlossenen Augen. Andere Wahrnehmungen als das, was sie sich vorstellte,
hätten nur abgelenkt.
Was hat Hanna Reitsch gemacht? Der Ausdruck der Simulation drängt sich auf. Es
gibt ja inzwischen eine Maschine, die eben das leistet, was Hanna Reitsch für
sich erzeugt hat, den Flugsimulator. Trotzdem wird der Begriff dem Sachverhalt
nicht gerecht. Für den Lernenden im Simulator erzeugt die Maschine eben die
Sinneswahrnehmungen, die Hanna Reitsch durch eine imaginierte Bewegung in sich
selbst erzeugte. Was also konnte sie besonders? Alles deutet auf eine besondere
Begabung dafür hin, die beiden Wahrnehmungsbereiche, ,außen‘ und ,innen‘,
aneinander anzuschließen, sinnlich vollzogene Erfahrungen in den Bereich der
Imagination zu transponieren. Eine besondere Bedeutung scheint dabei der
Speicherung von Bewegungsmustern zuzukommen, also von Sinnesdaten in ihrer
subjekthaften Strukturierung unter den Bedingungen von Zeit und Raum.
Die Sportwissenschaft hat sich diese Erkenntnisse längst zunutze gemacht. Sie
werden heutzutage unter dem Namen „mentales Training“ in die Praxis umgesetzt
und bewähren sich u. a. dann, wenn es gilt, durch Verletzungen erzwungene
Trainingspausen zu überbrücken. Ein schönes Dokument für so einen Prozess ist
der Bericht über eine Rekonvaleszenz eines Skispringers der deutschen
Nationalmannschaft, Michael Uhrmann. Wie das Fliegen ist auch das „Skifliegen“
eine Sportart, bei denen die „Wind- und Wetterverhältnisse“ eine große Rolle
spielen. Beim mentalen Training kommt es also nicht nur darauf an, die eigenen
Körperbewegungen entsprechend abrufen und koordinieren zu können, sondern auch
auf die Fähigkeit, die entsprechenden ,typischen‘ Bedingungen der Umwelt so
genau und so nachhaltig zu speichern, dass sie jederzeit abgerufen werden
können. Die mental repetierten Sprungabläufe haben ihr Charakteristikum, das sie
von den Erinnerungen an andere Ereignisse unterscheidet, eben darin, dass sie
als ,perspektivierte‘ Ereignisse wieder aufgerufen werden – das heißt dann auch:
als Ereignisse „in Echtzeit“. Die hier beschriebene Fähigkeit ist Ergebnis eines
speziellen Trainings. Während die perspektivierte Wahrnehmung gewöhnlich nur für
eine kurze Weile im Gedächtnis gespeichert wird, gelingen einzelnen Sportlern
Höchstleistungen, die durch eine besonders nachhaltige Speicherung von
perspektiviert Wahrgenommem möglich werden:
Uhrmanns Vorteil könnten seine Routine und seine Vorstellungskraft sein. Um die
Abläufe nicht zu vergessen, während der Fuß heilt, hält er sich durch mentales
Training fit. Oft stellt er sich bei geschlossenen Augen vor, wie er sich die
Skier anschnallt, auf den Balken rutscht, Brille und Helm richtet, losgleitet,
beschleunigt, abspringt, fliegt, landet, alles in Echtzeit (meine Hervorhebung,
D. K.). Er kann sich in seiner Phantasie auf viele Schanzen versetzen, weil er
so oft dort war, und er kann das Fluggefühl bei vielen Windrichtungen
simulieren. Er sagt: „Die Sprünge sind nicht raus aus meinem Kopf. Die stecken
da irgendwo drin. Und sie werden auch wieder herauskommen.“
Solche Selbstbeobachtungen lassen vermuten, dass die Verweildauer der
subjekthaften Perspektivierung von Wahrgenommenem in unserem Gedächtnis nicht
nur variabel (durch Training verlängerbar) ist, sondern dass die einzelnen
Individuen in dieser Hinsicht verschieden disponiert sind. Dieser schwer
zugängliche Zusammenhang lässt sich mit den individuellen Lektüren
vorstellungsbildender Texte vergleichen. Obwohl die orientierenden Verweisungen
im Text für alle Leser in gleicher Weise ,gegeben‘ sind, lässt sich in
Lesergesprächen beobachten, dass die so erzeugten anschaulichen Verhältnisse
(die Strukturierungen durch hier/dort, hin/her, rechts/links usf.) verschieden
gespeichert werden. Die ins Innere verschobene Origo verfestigt und erhält sich
offenbar bei verschiedenen Menschen in verschiedener Deutlichkeit.
Das ,mobile‘ Telefonieren und die Teilung des Gesprächsraums
Das ,Fernsprechen‘, also das Sprechen über den Raum gemeinsamer Wahrnehmung
hinaus, ist eine Erfindung des späteren 19. Jahrhunderts. Bis vor etwa zwei
Jahrzehnten war das ,Ferngespräch‘ an ein Leitungsnetz gebunden, dessen
Anschlussstellen fest („fix“) sind. Diese Art von ,Verbindung‘ gibt es immer
noch. Unter dieser technischen Bedingung erreicht der telefonische Anruf seinen
Empfänger immer an einem dafür vorgesehenen Ort, dort, wo das Telefon plaziert
ist. An diesem kann sich eine Art Intimraum bilden, in dem der Sprecher – mehr
oder weniger – mit sich allein ist. Etwa in Hörweite anwesende Dritte pfleg(t)en
diskret den ,Ferngesprächsraum‘ zu verlassen oder sich wenigstens abzuwenden, um
zu signalisieren: Ich höre weg. (Man denke auch an die Telefonzelle oder an
deren Minimalform, die beiderseitige Trennwand, die in der Reihe „öffentlicher“
Fetznetzanschlüsse jeden Sprechplatz von den anderen trennt.) Sagt der
Angerufene: „Bleib ruhig da!“, drückt er damit aus, dass es ihm nichts ausmacht
oder sogar wünschenswert erscheint, dass der Dritte zum Zeugen des Gesprächs
wird.
Die Einführung der Funk- und Satellitentelefonie („Handy“, „Portable“) stellt
demgegenüber eine völlig andere Gesprächssituation her: Telefoniert werden kann
jetzt überall. Aber das gilt für die Ferngesprächspartner nicht in gleicher
Weise. Dem Anrufer steht es frei, sich den Zeitpunkt und damit den Ort, von wo
aus er telefonieren will, seinen Bedürfnissen entsprechend zu wählen, aber der
Empfänger kann jederzeit und überall von einem Anruf erreicht werden. Zwei
Veränderungen, die damit verbunden sind, sollen angesprochen sein. Eine betrifft
das Telefonieren selbst, die andere die Einstellung (Disposition) jedes
Einzelnen zwischen den Telefonaten.
(a) Jemand in meiner Nähe spricht: in einem öffentlichen Verkehrsmittel, in der
Fußgängerzone, in einem Restaurant usf. Der Betreffende spricht so laut und so
intensiv, dass ich der Adressat sein könnte. Aber wenn ich ihn anschaue, stellt
kein Blickkontakt sich her. Und wenn er doch zu mir herblickt, weil er meine
überraschte Kopfdrehung auf ihn zu bemerkt hat, behält sein Blick etwas
Desorientiertes: er sieht seine Umgebung und mich darin und sieht mich doch
nicht, ich bin für ihn da und doch nicht da. Etwas von seiner Desorientierung
springt auch auf mich über, keiner von uns beiden weiß so recht, wie ihm
geschieht. Freilich, mir fällt es leichter, wieder zurecht zu kommen, kann ich
doch den Grund seiner Abwesenheit sehen, die Hand mit dem Handy an seinem Ohr,
während er überhaupt nicht begreift, wie es zu dem Blickkontakt mit mir gekommen
ist.
Die Diskrepanz zwischen der Situation, in die hinein, und derjenigen, von wo aus
gesprochen wird, kann geringer und größer sein. Das hängt nicht mit der
räumlichen Distanz zusammen, die von dem Telefonat überbrückt wird, sondern von
der Dynamik des Gesprächs, in das der Empfänger von dem Anrufenden verstrickt
wird. Zwei Dialoge, an denen ich als unfreiwilliger und sicher auch
unerwünschter Zeuge beteiligt war: Später Nachmittag, ein städtischer Omnibus,
in dem eine träge Müdigkeit vorherrscht. Ein Anruf, der einen der Fahrgäste zu
immer größerer Konzentration und Intensität zwingt. Geht es doch um nicht
weniger, als seine Freundin davon abzuhalten, ihn eben jetzt, während er auf dem
Weg zu ihr ist, Knall auf Fall und für immer zu verlassen. Ein Omnibus voll von
Zeugen eines Dramas, das zugleich herzzerreißend und grotesk komisch wirkt …
Eine Autobahnraststätte, die Herrentoilette. Ein Handy klingelt ,neben mir‘, das
von meinem ,Nachbarn‘ einhändig bedient wird. Gleich darauf ist der Raum von
einer überbordenden Begeisterung erfüllt. Begeisterung worüber? Ein Geschäft,
das blendend gut gegangen ist? Ein Wettgewinn? Das Angebot, an einer Reise ans
Ende der Welt teilzunehmen? Die Zeit, die der Begeisterte und ich noch
nebeneinander zubringen, reicht für Details nicht aus. Ich flüchte, so schnell
ich kann.
Und die Perspektive des Angerufenen selbst?
Mein Handy klingelt. Wenn ich die Empfangstaste drücke, bin ich – schon mit der
Identifizierung der Stimme dessen, der mich anruft – in zwei Räumen zugleich: in
dem Sprechraum des Partners und in meinem eigenen. Dabei ist es gar nicht
entscheidend, ob ich sofort weiß, wo real (an welchem geographischen Ort, in
welcher Lokalität, zwischen welchen Objekten) mein Gesprächspartner sich
befindet – ich bin ,bei ihm‘. Aber die Frage: „Wo bist du denn gerade?“ drängt
sich allemal auf, ja der Impuls, sie zu stellen, ist fast unabweislich. Indem
ich mir das Partner-Du vorstelle, meldet sich das Bedürfnis, mir auch die
Situation dort-bei-dir vorzustellen. (Man denke etwa an den exemplarischen Fall
des Partnergesprächs, bei dem der Anrufer von „zu Hause“ aus angerufen wird und
sich jedes Detail der gemeinsamen Wohnung vorstellen kann.) Die Attraktivität,
ja die Dominanz der Dialogsituation dort, erklärt meine „Geistesabwesenheit“ in
der Umgebung, in der ich mich körperlich befinde. Diese freilich kommt mir
selbst nicht zu Bewusstsein, ich kann sie mir – vorher, nachher – nur reziprok
aus all den Situationen erschließen, in denen ich sie an anderen wahrgenommen
habe. Das immerhin dürfte zur Selbsterfahrung aller Handy-Besitzer gehören: wie
stark die Attraktion eines Anrufs von anderswo her ist, wie stark die
Verstrickung in ein Gespräch, bei dem das Gegenüber nicht anwesend und doch da
ist. Das kann gefährlich werden. Da ich mit meinen Gedanken, meinen
teilnehmenden Gefühlen, mit meinem „inneren Auge“ dort und nur körperlich hier
bin, in dem Zustand also, den wir „geistesabwesend“ nennen, bin ich eine
potentielle Gefahrenquelle – für mich selbst und meine Mitanwesenden hier. Das
Telefonieren im Straßenverkehr ist längst juristisch relevant und unter
bestimmten Bedingungen eine Straftat.
(b) Und wie verändert sich meine Verfassung als Handy-Besitzer zwischen den
Ferngesprächen? Natürlich, ich kann das Handy abschalten und erst dann wieder
einschalten, wenn ich mich in eine Situation gerettet habe, in der das
Angerufenwerden mir wieder willkommen ist. Wenn ich das tue, bestehe ich auf
meiner Unabhängigkeit vom mobilen Telefonverkehr. Ich versetze mich in die Zeit
zurück, als noch das Festnetz dominierte, als die eigene Erreichbarkeit
einerseits, die Anrufbarkeit aller anderen noch nicht die Pointe des
Telefonierens war. Was ist neu gewonnen? Die Angst, unvermutet in eine Situation
der Hilfsbedürftigkeit und zugleich des Alleinseins zu geraten, ist gebannt.
Viele Leben sind gerettet worden – zum Beispiel das von Skifahrern, die von
Lawinen verschüttet waren, oder das des Mannes in einem Tropenland, den eine
Riesenpython samt seinem Handy auf einen Baum verschleppt hatte. Der Wunsch, mit
allen denen, die mir nahe oder wichtig sind, jederzeit in Kontakt treten zu
können, hat sich erfüllt. Nie wieder einsam sein! Der Wunsch,
Geschäftsbeziehungen jederzeit anbahnen, wieder aufnehmen, befördern und pflegen
zu können – allseitig effizient zu sein! Der Wunsch, mein Beziehungsnetz
jederzeit aktivieren, verdichten und erweitern zu können – dazuzugehören!
Das Risiko, das damit einhergeht?
Die technische Erreichbarkeit zu verinnerlichen. Von dem Gefühl allseitiger
Anschließbarkeit abhängig zu werden. Die Möglichkeit, jederzeit von hier weg und
nach irgendwo anders hin versetzbar zu sein, ins Lebensgefühl aufzunehmen. Die
Erwartung, angerufen, abgerufen, abgelenkt werden zu können, kann mit
Widerwillen oder mit Lust besetzt sein. Vermutlich mischt sich meistens beides.
Niemand weiß, wie sich das Lebensgefühl dadurch verändert. Baut ein Defizit sich
auf? Was dünnt aus? Das Gefühl, bei sich zu sein?
Die Zen-Regel: „Wenn du sitzt, dann sitz, wenn du gehst, dann geh!“ zielt auch
darauf, nicht schon beim Sitzen das Gehen und beim Gehen nicht schon das Sitzen
zu erwarten. Ist die ständige und allseitige Erreichbarkeit Nicht-Zen oder ist
sie das ,Zen‘ der Zukunft?
Die Verdoppelung der Origo im Wachtraum
Als einzige Lebewesen können wir Menschen hier und zugleich woanders sein, dort,
wo wir ,real‘ (leibhaftig) anwesend sind, und an einem Phantasieort. Oder wir
können, was auf dasselbe hinausläuft, jemanden, der gar nicht da ist,
herbeiphantasieren, und dabei womöglich jemanden, der real da ist, durch den/die
Herbeiphantasierte(n) ersetzen. Mit wem von beiden kommunizieren wir dann? In
welchem der beiden Erfahrungsräume agieren wir dann wirklich? Diese menschliche
Fähigkeit, die wohl eher eine Gefährdung ist, hat etwas Paradoxes und kann daher
nur in einer von der strikten Rationalität entkoppelten Sprachverwendung
beschrieben werden, die wir Menschen dafür erzeugt haben: der Sprache der
Fiktion.
In der Literaturgeschichte gibt es den Topos des mit einem/einer anderen
gezeugten Kindes. Dabei geht es gerade nicht um Ehebruch, sondern um das
Ergebnis einer anderen, einer vorstellungshaften Zeugung im Vollzug der realen.
Dieser Tatbestand wird gewöhnlich so in die Erzählung eingeführt, dass ein Kind
jemand anderem, einem/einer Dritten „ähnlicher“ ist als den wirklichen
Elternteilen.
In Goethes Wahlverwandtschaften sind es beide Partner, die sich im Akt der
Zeugung jeweils eine/einen andere(n) phantasiert haben müssen, denn bei der
Taufe des Kindes stellt sich heraus, dass der Sohn Eduards und Charlottes nicht
diesen beiden, sondern dem Hauptmann und Ottilie „gleicht“. Die Ähnlichkeit des
kleinen „Otto“ mit dem Hauptmann wird von dem einen Taufpaten, Mittler, bemerkt,
die Ähnlichkeit „Ottos“ mit Ottilie – von dieser selbst. Abgesehen davon, dass
bei einer solch doppelten Unähnlichkeit des Kindes gegenüber den realen
Erzeugern der Gedanke an einen ,realen‘ Ehebruch ausgeschlossen ist, hat der
Erzähler lange vorher, am Ende des ersten Romanteils, die verstörende Entdeckung
der Ähnlichkeitsverhältnisse subtil vorbereitet. In dem Brief, in dem Charlotte
dem – im Kriege – abwesenden Eduard mitteilt, dass sie „guter Hoffnung“ sei,
erinnert sie auch an die Umstände der Zeugung:
Gedenke jener nächtlichen Stunden, in denen du deine Gattin abenteuerlich als
Liebender besuchtest, sie unwiderstehlich an dich zogst, sie als eine Geliebte,
als eine Braut in die Arme schlossest. Laß uns in dieser seltsamen Zufälligkeit
eine Fügung des Himmels verehren, die für ein neues Band unserer Verhältnisse
gesorgt hat, in dem Augenblick, da das Glück unsres Lebens auseinanderzufallen
und zu verschwinden droht.
So will das Bewusstsein Charlottes das Geschehen jener Nacht gedeutet wissen.
Die Realität des Romans aber weist dem Einbrechen des Nicht-Realen, der
Wunschphantasie, die größere Wirkungsmacht zu. Da jeder der Ehepartner sich im
Zeugungsakt einen anderen Partner/eine andere Partnerin vorgestellt hat, gehört
das gezeugte Kind keinem von beiden an. Diese Tatsache bestimmt den
katastrophalen Fortgang der Handlung. Das elternlose Kind stirbt infolge einer
Verkettung von spontanen Handlungen und von Zufällen, in die beide, der
leibliche Vater und seine Wunschpartnerin, Eduard und Ottilie, verstrickt sind.
(Wirklich) gelebtes und (probeweise) fingiertes Leben
In seiner „Meerfahrt mit Don Quijote“ notiert Thomas Mann eine Erfahrung, die er
sicherlich nicht außerhalb seiner Selbsterfahrung als Autor fiktionaler
Literatur erzeugt hat: „Phantasie haben heißt nicht, sich etwas ausdenken; es
heißt, sich aus den Dingen etwas machen.“ Er wehrt damit die Meinung ab, wir
könnten „denkend“, also kraft bloßer Bewusstseinstätigkeit, neue Inhalte der
Vorstellung erzeugen. Wäre es so, wären die Gebilde unserer Phantasie Kreationen
aus dem Nichts heraus, entsprechend der Redensart: „sich etwas ausdenken“.
Dagegen setzt Thomas Mann die Ansicht, dass die Inhalte der Phantasie aus der
Erfahrung stammen. Die Tätigkeit der Phantasie besteht darin, Elemente dieser
Erfahrung so zu kombinieren und zu transformieren, dass daraus quasi-wirkliche
Syndrome werden, wobei offenbleiben kann, ob sie real möglich sind oder nicht.
Jedenfalls kann die so erzeugte, nur in unserem individuellen Inneren geltende
Wirklichkeit ihrerseits Anlass (Motiv) für praktisches Handeln werden, das dann
von unseren Mitmenschen nicht ohne weiteres verstanden wird – bleibt ihnen doch
der von uns vollzogene Zwischenschritt der phantastischen Verarbeitung von
Wirklichkeit unersichtlich. So gesehen besteht die Tätigkeit der Phantasie
darin, in getrennten zeitlich-räumlichen Zusammenhängen Erfahrenes so zu
kombinieren, dass die Gleichzeitigkeit einen neuen, einen phantastischen
Zusammenhang ergibt.
Die Mischung von sinnlich beglaubigtem Erleben und vorstellendem Fingieren
gehört zum Alltag. Ich springe dazwischen hin und her, ohne immer ganz genau zu
wissen, wo ich mich gerade befinde. Dabei greife ich auf der Zeitachse nach zwei
Richtungen aus: erinnernd in die Vergangenheit, projektierend in die Zukunft.
Das kann mehr spielerisch oder mehr zielgeleitet vor sich gehen. Ich kann auf
diese Weise Komplex-Verworrenes übersichtlich machen, Ungewiss-Offenes erproben.
Ich kann dem Unbegriffen-Erlebten Sinn geben, es auf den Punkt bringen, und so
besser in mein Bild von mir selbst integrieren. Ich kann die Bedrohung der
ungewissen Zukunft mildern, indem ich erwartbare Situationen vorwegnehme, als
wären sie bereits da. Wie werde ich eine Kündigung im Berufsleben verarbeiten?
Wie werde ich auf den Verlust des Lebenspartners reagieren? Wie werde ich mit
einer fatalen medizinischen Diagnose umgehen? Wie ,real‘ unser Gehirn auf diese
Vorstellungen reagiert, wie ,ernst‘ es die Simulationen nimmt, hat die
Hirnforschung sichtbar gemacht. Kraft Imagination evozieren wir in uns selbst
Gefühle – samt deren körperlichen Manifestationen –, die in den ,tieferen‘
Hirnregionen gespeichert sind. Angstschweiß tritt uns auf die Stirn, wir werden
starr, wir fühlen uns dem Nichts ausgeliefert. Das Kalkül, das dem vorstellenden
Simulieren – mehr oder weniger bewusst – zugrunde liegt: sich durch den Vorgriff
des vorstellenden Bewusstseins vor dem Befürchteten zu schützen.
Aber diese Schutzmaßnahmen sind nicht ohne Risiko. Sie können zwanghafte Züge
annehmen. Sie können lähmend wirken und verhindern, dass wir überhaupt noch im
Jetzt und Hier anwesend sind. In der Psychoanalyse wird die zwanghafte Ausmalung
möglicher Katastrophen mit einem exzessiven Bedürfnis nach Sicherheit in
Verbindung gebracht. Andererseits: Ohne ein gewisses Maß an Vorwegnahme von
Zukünftigem ist menschliches Leben gar nicht vorstellbar. Bei der Planung von
längeren Handlungsketten, vollends bei Entwürfen, die das ganze Leben umfassen,
sind wir auf vorwegnehmendes Phantasieren angewiesen. An der Realisierung oder
am Scheitern der Entwürfe wird ablesbar, inwieweit wir uns selbst ,realistisch‘
eingeschätzt haben.
Ähnlich doppeldeutig verhält es sich mit dem Ausgriff in die Vergangenheit.
Einerseits würden wir nichts dazulernen, wenn wir das Geschehene nicht
reflektieren könnten, andererseits kann das Begrübeln dessen, was wir meinen
,falsch‘ gemacht zu haben, das Versinken in – mehr oder minder durchschauten –
Schuldgefühlen, uns das Leben zur Qual machen. Der griechische Mythos hat als
Verkörperung des Voraus-Sinnens den Prometheus, als Verkörperung des
Danach-Sinnens den Epimetheus erfunden und eindeutig für den ersten Partei
genommen. Prometheus war es denn auch, der den Menschen das den Göttern geraubte
,Feuer‘ überbrachte.
Es sieht so aus, als sei die Origo, wenn sie sich einmal in einem phantastischen
Zusammenhang etabliert hat, äußerst beweglich, als könne sie beliebige Szenarien
um sich herum aufbauen, die dann ihrerseits auch wieder beliebig überformt,
verändert und weiter entwickelt werden können. Wie kommt diese ,freie‘
Beweglichkeit zustande?
Die Entkopplung der Vorstellungswelt vom Raum-Zeit-Kontinuum
Aus dem eben Besprochenen könnte man den Schluss ziehen, dass der Unterschied
zwischen Außen-Wahrnehmung und Innen-Erleben unerheblich ist, ja man könnte
bezweifeln, ob Ich-Erleben und Ich-Fiktion überhaupt zu unterscheiden sind.
Können wir doch in dem Raum, den unser vorstellendes Bewusstsein erzeugt, all
das nacherleben, was die sinnliche Erfahrung von Außenwelt uns je eingebracht
hat – und noch viel mehr als das!
Der Schluss wäre irrig. Dass Erfahrung von Außenwelt und deren Prozessierung in
unserem Inneren sich unter verschiedenen Bedingungen vollziehen, lässt sich vor
allem an einer Beobachtung festmachen: an der Entkoppelung der Ereignisse und
Ereignissequenzen, die wir kraft unseres vorstellenden Bewusstseins (nach)vollziehen,
vom realen Raum-Zeit-Kontinuum.
Es gehört zur Selbsterfahrung, in uns selbst versinken, ja gleichsam verloren
gehen zu können. Das geschieht, wenn der Fokus unserer Aufmerksamkeit sich von
der Außenwelt abgelöst und nach ,innen‘ hin gewendet hat. Ein uns allen so
vertrauter wie merkwürdiger Zustand: Wir nennen ihn „Geistesabwesenheit“. Aber
wieso Abwesenheit? Sind wir doch in diesem Zustand ganz anwesend, ganz in uns.
Ein anderer Ausdruck für diesen Zustand, „Gedankenverlorenheit“, deutet an, was
es mit dieser Verlorenheit auf sich hat: Wir haben uns in unsere (an unsere)
,Gedanken‘ verloren.
Schieben wir die Frage, wovon wir denn in solchen Situationen abwesend sind,
noch auf und fragen zuerst nach etwas anderem: Wer ist es, der den Zustand der
„Geistesabwesenheit“ an uns wahrnimmt und diagnostiziert? Sind wir es selbst
oder sind es andere? Beides ist möglich, mit einem Unterschied: Während andere
diesen Zustand als gegenwärtig beobachten können („Du bist ja ganz
geistesabwesend!“), kommt er uns erst im Nachhinein zu Bewusstsein:
„Entschuldige bitte, ich war eben ganz geistesabwesend!“
Ein problematischer, ein verführerischer Zustand! Wir „surfen“, aber nicht in
dem allen zur Verfügung stehenden Internet, sondern im Speicher unseres
individuellen Computers. In dieser Verfassung unseres Ich, so kann es jedenfalls
erscheinen, steht uns die Fülle aller im Gehirn gespeicherten Daten zur
Verfügung, soweit sie dem erinnernden Bewusstsein zugänglich sind: ob sie unser
individuelles Leben betreffen, also die autobiographischen Fakten im engeren
Sinn, oder ob es sich um kulturelle Erfahrungsdaten und Wissensbestände handelt,
die die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte gesammelt hat, seien es
mathematische Formeln oder Naturgesetze, seien es Mythen, Weisheitslehren oder
religiöse Dogmen. All das, sei es nun szenisch-anschaulich, sei es zeichenhaft
kodiert, kann nicht nur abgerufen, sondern weiterverarbeitet und verknüpft
werden, sei es logisch, sei es assoziativ. Das Gefühl, das sich aus der
Verfügbarkeit von allem in uns einstellen kann, grenzt bekanntlich an das der
Allmacht an – die Versuchung liegt nahe, es auch jenseits der Ich-Grenzen
auszuleben, zumal zu unserem Wissen über die Welt auch das Wissen über die
anderen gehört. Und Wissen verbindet sich, wie die Figur des „Doktor Faustus“
lehrt, mit dem Gefühl realer Macht.
Fragen wir uns jetzt, was es mit der „Geistesabwesenheit“ bzw. der
„Gedankenverlorenheit“ auf sich hat, unter dem Gesichtspunkt, wovon wir uns
abgelöst haben, wovon wir weg sind. Ein Aspekt der Frage ist bereits
beantwortet: die Kommunikation mit unseren Mitmenschen ist dabei unterbrochen.
Aber es gibt noch einen anderen: Wie unterscheidet sich die ,Wirklichkeit‘, die
wir im Zustand der „Geistesabwesenheit“ erleben, von der, die wir mit anderen
gemeinsam haben?
Beginnen wir auch hier mit einem Beispiel. In Situationen extremer Gefahr für
unser Leben, wenn wir abstürzen, wenn wir unter Wasser geraten sind, wenn ein
Fahrzeug, in dem wir uns befinden, außer Kontrolle gerät, sehen wir – so
berichten diejenigen, die dergleichen erlebt haben, einhellig – „unser ganzes
Leben vor uns ablaufen“. Das ist, auch wenn es nur Schlüsselszenen daraus sind,
erstaunlich viel. Und der „Film“ unseres Lebens ist äußerst realistisch,
detailreich, eben so, als erlebten wir das alles tatsächlich noch einmal – nur
eins ist anders dabei: die Geschwindigkeit des Ablaufs. Die Zeit, in der das
alles sich in uns vollzieht, ist von der Realzeit, in der die betreffenden
Szenen erlebt wurden, abgelöst. In unserer „Geistesabwesenheit“ sind wir von dem
realen Raum-Zeit-Kontinuum entkoppelt.
Dergleichen ist uns auch aus Traumerlebnissen bekannt. So können wir im Traum
weiter springen und schneller laufen, können Sätze vollführen, die ans Fliegen
grenzen. Die Psychologie sagt uns, was es mit den Ursachen dieser
,unrealistischen‘ Binnenerfahrungen auf sich hat: Sie seien, hört man, das
Ergebnis einer Mischung von motorischem und erotisch-sexuellem Antrieb. Das mag
seine Richtigkeit haben, aber nicht darum geht es hier, sondern um die Frage,
wie es möglich ist, dass unser vorstellendes Bewusstsein einerseits
wirklichkeitskonform, andererseits wirklichkeitsentkoppelt agiert.
Wie schon mehrmals angesprochen, können wir Erlebtes nicht nur in bildlicher
Fixierung, sondern als Sequenzen bewegter Bilder speichern.
Kraft unseres vorstellungshaften Bewusstseins können wir uns all das noch einmal
vor Augen stellen, was sich unserem Gedächtnis eingeprägt hat. Wie die
Gedächtnisforschung belegt, speichern wir bevorzugt solche Szenen, deren Erleben
von starken Emotionen begleitet war, etwa Liebeserlebnisse, Neuentdeckungen,
Erfolge. Jede Teilsequenz, jede Bildfolge im Einzelnen können wird nicht nur –
und das beliebig oft – wiederablaufen lassen, sondern wir können sie, ganz wie
ein Filmvorführer seinen Film, an bestimmten Stellen anhalten und die dabei
(wieder) aufgerufenen Gefühle – gleichsam mit geschlossenem innerem Auge – auf
uns wirken lassen. Das Verblüffende daran: Trotz der Entkoppelung vom realen
Raum-Zeit-Kontinuum ist die Intensität der Erinnerung der Intensität des
ursprünglichen Erlebens durchaus vergleichbar.
Eben hierin liegt die Verführungskraft des (Nach-)Erlebens im eignen Inneren!
Die Täuschungskraft des Erlebens off-line! Mit dieser Metapher meine ich das
Erleben, das sich ohne den Zufluss von sinnlicher Wahrnehmung vollzieht. Die
Lebhaftigkeit, Farbigkeit, ja die scheinbare Authentizität unseres
Wiedererlebens kraft Bewusstsein täuscht leicht darüber hinweg, dass es ein
Erleben als ob ist, das sich in einem Innen-hier und Innen-jetzt vollzieht. Zwei
Konsequenzen ergeben sich hieraus: die Möglichkeit der (Selbst-) Täuschung und
die Gefährdung der Kommunikation mit anderen. Die zweite wird Thema sein, wenn
es um die Frage geht, worauf wir uns eigentlich berufen, wenn wir ,ich selbst‘
sagen (siehe Kapitel 8), die erste, sehr viel evidentere, soll hier angesprochen
sein.
In der Szene von Goethes Faust-Drama, in der Faust stirbt, geschieht
Verschiedenes gleichzeitig und es geschieht auf zwei – fast – getrennten Bühnen:
im Inneren von Faust und in der Welt um ihn herum. Während die Lemuren schon
sein Grab ausschaufeln, phantasiert der erblindete Faust sich in den letzten,
den größtmöglichen Erfolg seines Lebens hinein, den Deichbau, der „vielen
Millionen“ Räume eröffnen und fruchtbare „Gefilde“ schaffen soll, ja, er lässt
sich dazu hinreißen, eben dieses Pseudo-jetzt als Ankündigung des lebenslang
ersehnten Glücksmoments zu begrüßen, dessen Dauer zu wünschen wäre – die
größtmögliche aller Täuschungen. Das Tragikomische der Szene: Fausts akustische
Verbindung zur Außenwelt ist nicht völlig abgerissen. Er hört die Grabegeräusche,
aber er hält sie, in seinem Wahn befangen, für den Arbeitslärm des Deichbaus.
Seine letzten Worte: ein sich selbst ad absurdum führendes Räsonieren:
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß!
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
„Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Äonen untergehn.“ –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.
Was Goethe – in äußerster ironischer Distanz – seinen Doktor Faustus erleben
lässt, passiert mir auch, wahrscheinlich öfter als ich es merke: Etwas anderes
zu erleben als das, was wirklich vor sich geht. Niemand überprüft die Auswertung
meiner Wahrnehmungen. Niemand hindert mich daran, dass ich mich täusche. Und nur
in den seltensten Fällen kommt es zu einer Klärung darüber, was mich dazu bewegt
hat, meinen Vorverständnissen und Wünschen, der Konsequenz meiner inneren
Verknüpfungen größere Macht einzuräumen als den Wahrnehmungsdetails, die all dem
widersprechen.
Das Nicht-Vorwegnehmbare: das Aufhören (Wegbleiben) von ,ich‘
Meine Vorstellungstätigkeit, die zu allem fähig scheint, kommt an eine Grenze,
meinen Tod. Weil ich hieran immer wieder scheitere, komme ich immer wieder
hierher zurück. Das Scheitern an dieser Grenze macht Angst. Sie mobilisiert auch
das Angstpotential, das sich aus Erfahrungen mitten im Leben speist: dass
körperliche Schwächung, sei es durch extreme Anstrengung, durch Krankheit oder,
bei Frauen, durch eine Geburt, die von psychischer Desorientierung begleitet
sein kann – und von Schmerz.
Es gibt einen breiten Strang kultureller Tradition, der die unablässige
Bearbeitung der Vorstellungsbarriere ,Tod‘ überliefert. Drei Aspekte davon
sollen hier angesprochen sein: (a) die Doppeldeutigkeit der Begleiter-Figuren,
(b) die Phantasie der Wiedergeburt, (c) die Erfindung von Gott.
(a) In der Phantasie kann der Tod als Tier (z. B. als Schakal oder Jaguar)
auftreten, als Fährmann, Knochen- oder Sensenmann, als sanfter Jüngling, als
Gestalt in Schwarz, deren Gesicht von einer Kapuze verhüllt ist, usf. Aber alle
diese Gestalten finden darin zusammen, dass der Tod in ihnen als derjenige
vorgestellt wird, der uns ins ,Jenseits‘ geleitet. Oft geht das Geleit über
einen Fluss, der die Welt der Lebenden von der Welt der Toten, das Bekannte vom
Unvorstellbaren trennt. Das Abholen/Abgeholtwerden ist ein Geschehen zwischen
zweien, und das Verhältnis zwischen dem Abholer und dem, der abgeholt wird, kann
sich ändern. Der Abholer kann sich zunehmend deutlich zu erkennen geben, er kann
den Auftrag, in dem er kommt, mitteilen. Nachdem er sich zuerst nur gezeigt hat,
kann er winken, rufen, sprechen. Und der Abgeholte? Er neigt zur Verweigerung.
Er erklärt das Erscheinen des Abholers als Irrtum, als ,unzeitig‘, oder er weist
es als unziemlich (ungerecht) von sich. Wie kommt es zur Verständigung zwischen
beiden? Wie setzt sich das Unvermeidliche durch? Das geschieht auf verschiedene
Weise, wobei allen gemeinsam ist, dass der Abholer keine Gewalt anwenden muss.
Die möglichen Varianten: Der Abholer verändert seine Gestalt, jedenfalls seine
Wirkung, der Abgeholte gibt, in Einsicht in das Unvermeidliche, seinen
Widerstand auf oder erklärt sich aus eigener Einsicht einverstanden, oder – die
tiefsinnigste Variante von allen – das Verhältnis zwischen Abholer und
Abgeholtem erweist sich als eins der Gegenseitigkeit. Für die ersten beiden
Varianten führe ich Beispiele aus der kulturellen Nahzone an: In dem von Franz
Schubert (1797–1828) vertonten Gedicht „Der Tod und das Mädchen“ von Matthias
Claudius (1740–1828) wandelt sich der Tod vom „wilden Knochenmann“ zum „sanften“
Geliebten, in dessen Armen das Mädchen „schlafen“ wird. In Ferdinand Raimunds
(1790–1836) berühmtem „Hobellied“ aus dem Volksstück Der Verschwender (1834)
weigert sich der Abgeholte mitzukommen („da stell ich mich am Anfang taub“),
entschließt sich dann aber, seine Weigerung aufzugeben: „Doch spricht er:
,Lieber Valentin,/ mach keine Umständ, geh!‘/ da klopf ich meinen Hobel aus/ und
sag der Welt ade.“ Er tut das aus der überlegenen Welterfahrung heraus, die er
eben geäußert hat: „Das Schicksal setzt den Hobel an/ und hobelt alle gleich.“
Für den schicksalhaften, auf Gegenseitigkeit beruhenden Zusammenhang zwischen
dem Einzelnen und seinem Tod schließlich ein Beispiel aus dem Orient: In einer
ägyptisch-islamischen Parabel sieht der Wesir, der für seinen Kalifen incognito
unterwegs ist, eine schwarze Gestalt, die ihn, aus der Menge heraus, gleichsam
erstaunt, fixiert. Er erzählt dem Kalifen von der Gestalt, von der er sich
bedroht fühlt, und erbittet sich das beste Pferd aus dem Stall, um möglichst
schnell weit weg, nach Samarkand, zu fliehen. Er erhält das Pferd, aber der
Kalif, neugierig geworden, begibt sich selbst auf den Marktplatz, wo das Treffen
stattgefunden hat. Er sieht den „schwarzen Fremden“, spricht ihn an, und der
andere gibt sich als „Tod“ zu erkennen. Ja, er habe den Wesir „erstaunt“
angesehen. Warum? Weil er ihn hier nicht erwartet habe. Hätten sie beide doch
eine Verabredung – für Samarkand.
(b) Sowohl im Okzident wie im Orient gibt es die Spekulation der Seelenwanderung
bzw. Wiedergeburt. Bei Platon zum Beispiel ist sie mit der Erkenntnislehre
verknüpft (den „vorher“ geschauten Ideen – siehe Kapitel 7) und bekommt so etwas
Beiläufiges. Wiedergeburt und Tod gehören zusammen wie zwei Takteinheiten, die
sich endlos wiederholen. Im Hinduismus, aber auch im Buddhismus, ist der Tod
eine Art Bilanzierungsstelle, an der das davor gelebte Leben sich mit dem danach
folgenden verknüpft. Das vorherige entscheidet über das nächste. Je nach
Verdienst in diesem Leben werden wir in dem danach wiedergeboren: in ein
Lebewesen hinein, das entweder einer ,höheren‘ oder einer ,niedrigeren‘ Gattung
angehört, z. B. als Kuh, Hund oder Maus, wenn es abwärts geht, oder aber, wenn
es aufwärts geht, wieder als Mensch, aber nun als Mitglied einer anderen, einer
höheren Kaste. Für eine Frau wäre auch der Übergang ins männliche Geschlecht ein
Aufstieg. Was der Buddhismus der hinduistischen Idee der Seelenwanderung
hinzugefügt hat, ist die Möglichkeit, der Kette der Wiedergeburten endgültig zu
entkommen: durch den angemessenen (sorgsamen) Umgang mit sich selbst und den
anderen, das Freikommen aus den Verstrickungen des Lebens. Das Nicht-Sein
(Nirwana), in das wir so gelangen, ist seiner emotionalen Qualität nach ähnlich
positiv besetzt wie unser westliches ,Sein‘. Das scheint auf eine andere
Grundqualität der Lebenserfahrung hinzudeuten: Lebensleid dort, Lebensbejahung
hier. Sieht man von dem moralisch-ethischen Aspekt des Ortes der Wiedergeburt
ab, bewirkt sie im Osten wie im Westen das Gleiche, die Einbettung des Einzelnen
in ein großes Ganzes (Natur, Kosmos, Wahrheit), die den individuellen Tod
mildert, indem sie ihn relativiert.
(c) Am konsequentesten haben die monotheistischen Religionen, zumal die
mosaisch-christliche, auf die Unzugänglichkeit des individuellen Lebensendes
reagiert. Hier hat der Tod eine klar definierte Funktion: Er ist der Schritt ins
Jenseits hinüber, wo Gott wartet. Er ist der letzte Schritt zum Ziel. Der Tod
ist einbezogen in die Geschichte der Menschheit und des Menschen zu Gott hin,
einbezogen in Heilsgeschichte. In diesem Übergang werde ich nicht nur von den
Unzulänglichkeiten meines eigenen Lebens erlöst, den Defiziten meiner
Veranlagung, den Ungerechtigkeiten, die ich von Seiten meiner Mitmenschen
erleiden muss, den Konflikten in der Gesellschaft, sondern auch von der
Katastrophenanfälligkeit der Menschheitsgeschichte. Da die Zeit zwischen meinem
individuellen Tod und dem allgemeinen Weltgericht unbestimmt ist, bringt mich
der Tod unmittelbar vor meinen Schöpfer, Erlöser, Richter. Das Verhältnis der
letzten zwei Gottfunktionen wird von den einzelnen Glaubensrichtungen, auch den
verschiedenen Glaubensgemeinschaften innerhalb des Christentums, verschieden
bestimmt. Die einen betonen die Gerechtigkeit, die anderen die Gnade. In dem
ersten Fall macht das, was nach dem Tod wartet, Angst, die sich dann auch mit
der Vorstellung des Todes selbst verbindet. Hier zeigt sich in der Verkündigung
des Gottesglaubens eine gewisse Ambivalenz. Einerseits wird sie – sozusagen als
Drohpotential – benötigt, um ein gottgefälliges Leben zu erzwingen, andererseits
wirbt – zumal die christliche – Religion ja eben damit, dass der Tod im Glauben
an den barmherzigen Gott seinen „Stachel“ verliert. Daraus ergibt sich dann doch
wieder eine – nun sekundäre – Doppeldeutigkeit: Die Angst vor dem Tod will sich
nicht ganz von der Angst vor dem, was danach kommt, trennen. Der Tod trennt sich
in seine zwei Aspekte: das Aufhören des Lebens und der Beginn eines anderen
Zustands. Wo dies zu Bewusstsein kommt, drängt sich die explizite Unterscheidung
auf: „Angst vor dem Tode habe ich nicht, aber Angst vor dem Sterben.“
Der geteilte Fokus: Die Welt unter ,Gott‘
Zu unserem Vermögen, eine innere Welt zu erzeugen, gehört auch die Fähigkeit,
die jeweilige Wahrnehmung unter einen bestimmten Gesichtspunkt zu stellen. Die
lateinische Sprache hat dafür die Formel sub specie … vorgegeben. Sehen wir
etwas auf diese Weise, ist unser Fokus gespalten, wir sehen etwas und wir sehen
den entsprechenden Gesichtspunkt darüber. Dieser bestimmt das, was ,darunter‘
gesehen wird, er wirft sein Licht darüber
Wie sich eben gezeigt hat, spricht viel dafür, dass wir Menschen ,Gott‘ vor
allem dazu in uns herausgearbeitet haben, um die Angst vor dem Tod zu bekämpfen,
und vielleicht ist das immer noch seine wichtigste Funktion. Aber ,Gott‘ ist
inzwischen auch der allgemeinste und höchste ,Gesichtspunkt‘ geworden, unter den
wir unsere innere Wahrnehmung stellen können. Um ihn dazu zu machen, haben die
monotheistischen Religionen ihn mit den notwendigen Eigenschaften ausgestattet:
Ewigkeit, Allwissenheit, Barmherzigkeit (Gnade), Gerechtigkeit usf.. All diese
Annahmen setzen freilich eine weitere voraus: Gottes Menschlichkeit. Um mich
verstehen („lieben“) zu können, muß er sein wie ich. Besonders ausführlich ist
die Psychologie Gottes in der mosaisch-christlichen Theologie ausgearbeitet
worden. Sie füllt Bibliotheken. Um deren Inhalt geht es hier nicht, die
Bibliothekstüren sollen nicht einmal geöffnet werden. Vielmehr soll es um die
praktischen (immanenten) Folgen des geteilten Fokus gehen, der zu einer Spaltung
der inneren Wahrnehmung führt.
Der Zusammenhang ist facettenreich und wird in diesem Essay mehrfach
angesprochen: Wie der Glaube an ,Gott‘ unser Verhältnis zu den Mitsubjekten
betrifft, zumal, wenn es um Politik geht, wird gegen Ende dieses Argumentgangs
(in Kapitel 9 und 10) erörtert; „Das Gebet als Dialograhmen“ wird im
Zusammenhang des Selbstgesprächs thematisiert (siehe Kapitel 7). An dieser
Stelle geht es um ,Gott‘ als Referenzpunkt, von dem alles in der Welt in uns
seine Bestimmung und seine Bedeutung erhält.
Innerhalb dieser Konstruktion befinde ,ich‘, das gläubige Individuum, mich in
einer prekären Situation: ich sehe die Dinge der Welt, die Verhältnisse meiner
Wirklichkeit, aber ich sehe sie nicht gradezu, nicht so, wie ich sie sehe,
einfach nur mir gegenüber und rings um mich herum, sondern ,unter Gott‘. Nicht
nur das natürliche Sonnenlicht fällt auf sie, sondern zugleich das Licht Gottes.
Sie sind und bedeuten nicht nur das, was ich ihnen ansehe, sondern das, was Gott
sie sein und bedeuten lässt. Die eine Ansicht der Dinge in der Welt und der Welt
insgesamt ergibt sich aus meiner sinnlichen Wahrnehmung, die zweite aus meinem
Wissen über ,Gott‘. Die erste kann ich jederzeit neu überprüfen, die zweite
wurde mir mitgeteilt, als Sprache, als Text. Dabei handelt es sich um eine
besondere Art von Text: nicht einen, in dem Erfahrung mit der Welt sich
niedergeschlagen hat, sondern einen, der aller Erfahrung vorausliegt, einen,
der, als er verkündet („offenbart“) wurde, so fertig wie endgültig war („Am
Anfang war das Wort“).
Die Folgen dieser geteilten Blickeinstellung, die eine Dreiecksfigur ergeben,
lassen sich unter zwei komplementären Stichworten skizzieren: Geborgenheit und
Anstrengung.
,Gott‘ kennt mich, ,Gott‘ liebt mich. Er weiß nicht nur, was ich getan habe und
noch tun werde, er weiß auch, wie meine Taten im Blick auf das, was zu tun mir
möglich war, unter Einrechnung also meiner Gene und meiner sozialen Herkunft
(gute/schlechte Eltern etc.), zu bewerten ist. Er wird mir restlos gerecht. Er
akzeptiert mich, wie ich bin – vorausgesetzt, ich unterwerfe mich ihm ganz und
bitte ihn um seine Gnade. Aber das ist nur die private Seite meiner Geborgenheit
in ihm. Er garantiert auch das Ganze: den Zusammenhang mit meinen Mit-Subjekten,
die sozialen Beziehungen, und meine Einbettung in die materiale Welt:
Makrokosmos und Mikrokosmos, unbelebte und belebte Materie, chemische und
physikalische Gesetzmäßigkeiten. ,Gott‘ hat mir einen Platz in der
Weltgeschichte zugewiesen, die nichts anderes als ,Heilsgeschichte‘ ist. Deren
Merkmal: ihr Ende steht bereits an ihrem Anfang (der Weltschöpfung) fest. Zwar
lassen sich darin verschiedene Akte unterscheiden: Sündenfall, Erlösung der
Gläubigen, Jüngstes Gericht, aber zusätzliche, unerwartbare Faktoren kommen
dabei nicht ins Spiel. Nichts, das die Heilsgeschichte entgleisen lassen oder
auch nur stören könnte. ,Ich‘ bin – wenn ich es so will – umfangen, eingebettet,
aufgehoben.
Anstrengung. Freilich, zu der Geborgenheit gehört der Zweifel – und die Angst.
Das wusste schon der heilige Augustinus. Für jeden Gläubigen, wie stark sein
Glaube auch sein mag, gibt es Momente, Situationen, Bewusstseinslagen, in denen
die Dreiecksfigur verrutscht, die Bedeutung, die von ,oben‘ einfällt, erlischt.
Dann sehe ,ich‘ mich meinen Mitmenschen einfach nur gegenüber, von den Dingen
meiner Welt umgeben, wie sie sind, sehe sie ihrer von oben einfallenden
Bedeutung beraubt, so dass sie bedeutungsnackt erscheinen, meine eigene Existenz
mittendrin sinnlos. Das Wegbleiben von Gott kann Angst erzeugen, die abzuwehren
all meine Kraft und Anstrengung erfordert. Diese Bedeutungsleere hat nichts mit
dem Zustand zu tun, den wir einst mit allen anderen Tieren teilten, der
Selbstverständlichkeit (,Bedeutungslosigkeit‘) des Daseins und Dazugehörens.
Daraus hat das Bewusstsein von Individualität sich erst abgesondert. Zum
selbstverständlichen Dasein und Dazugehören gehört die Selbstverständlichkeit
der zeitlichen Endlichkeit, des Aufhörens von Existenz. Da der Tod von den
Tieren nicht antizipiert wird, sondern für sie nur näher kommt und eintritt,
brauchen sie keinen Gott. Nachdem unsere menschliche Art der Orientierung in der
Welt ihn aber nun einmal erzeugt hat, kommen wir nicht ohne weiteres von ihm
los. In die Angst vor dem Aufhören kann sich – zumal im Bedeutungsbereich des
mosaisch-christlichen Glaubens – ein Rest von Gottesfurcht mischen, genährt von
Schuldgefühlen, die wir in den Jahrtausenden der Gottesverkündung zu empfinden
gelernt haben.
Häufiger Anlass der Abschattung und des Verlorengehens von ,Gott‘ war und ist
die Erfahrung von Unglück, Leiden, Missgeschick, die Evidenz des ,Bösen‘ in der
Welt: Unfälle, Krankheit und vorzeitiger Tod, Naturkatastrophen, seelisches
Leid, körperliche und seelische Gewalt, Krieg, Hunger, Massenmord. Die
theologische Antwort auf all das: die „Unerforschlichkeit“ des Willens Gottes.
Die seelsorgerische Anrede an den Zweifelnden lautet dann etwa so: „Willst etwa
du, das Geschöpf, deinem Schöpfer Vorschriften machen, wie die Welt zu sein
hat?!“ Trotzdem nagt der Zweifel, trotzdem bleibt die Frage nach dem Status von
„Satan“, „Teufel“, „Mephisto“. In jedem von uns steckt Goethes „Faust“ – und die
Abwehr des Zweifels und der darin angelegten Angst strengt an.
Die Spannung zwischen Geborgenheit und Anstrengung, kann das Motiv dafür werden,
den ungespaltenen Blick auf die Welt zu probieren. Je mehr die Annahme von
,Gott‘ sich von allen anderen Welterfahrungen trennt und mit diesen konfliktiert,
desto häufiger und lebhafter das Motiv. Die Folgen? Teils, teils. Was wir an
Deutlichkeit und Einheitlichkeit (Kohärenz) der Erfahrung gewinnen, büßen wir an
glaubender Gewissheit und Geborgenheit ein. Die Trennung von ,Gott‘ innerhalb
eines Lebens, das mit ,Gott‘ begonnen hat, ist wohl nur unter Abreißqualen
möglich. Andererseits: Die zunehmende Vernetzung allen Wissens über die Welt,
die Annäherung der Wissenschaften des menschlichen ,Innen‘ und ,Außen‘ machen
das Hineinwachsen in die ,Gott‘-Tradition immer unwahrscheinlicher. Dazu kommt,
dass die Kluft zwischen gläubigem und ungläubigem Leben, zwischen gläubigen und
ungläubigen Verständnissen von Gesellschaft, Verfassung und Staat sich immer
weiter zuspitzt (vgl. Kapitel 10).
Noch wirkt die religiöse Tradition als moralisches Fundament, noch sichert sie
durch ihre Gebote und Verbote das Zusammenleben der Menschen. Aber was – so die
Frage, die auch von eher a-religiösen Philosophen gestellt wird –, wenn sie
immer weiter ausdünnt?
Ja, was dann?!
Wer garantiert nach einem Abklingen des Gottesgedankens die Gültigkeit der
mosaischen „Gebote vier bis zehn“ und aller anderen religiös tradierten, aber
immanent erprobten Lebensregeln, der menschlichen Grund- und Freiheitsrechte,
des Gleichheitspostulats – oder auch nur der Allerweltsweisheit: „Was du nicht
willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!“?
Etwa nur ,wir‘? ,ich‘? ,wir alle‘?
Zur Evolution des Mitgefühls
Die Fähigkeit von uns Menschen, uns im Inneren eine eigene Welt zu schaffen, die
wir als ebenso real erleben können wie die mit den anderen geteilte, schließt
auch ein eigenartig oszillierendes Vermögen ein: den Schmerz und das Leiden
eines Mitmenschen, den man ,vor Augen hat‘, als eigenen Schmerz und eigenes Leid
zu erleben. Das beschränkt sich nicht auf eine Tätigkeit unseres vorstellenden
Bewusstseins, sondern erreicht unseren Leib. Wir stellen dem Schmerz und dem
Leiden unseres Mitmenschen sozusagen den eigenen Leib als Resonanzkörper zur
Verfügung.
Auch von einigen Tierarten, den Primaten, aber auch den Elefanten, weiß man,
dass sie Krankheit, Schwäche, Schmerz ihrer Artgenossen wahrzunehmen vermögen.
Sie können fürsorglich, ja tröstend darauf eingehen. Die Neurophysiologie bringt
diese Fähigkeit der Empathie mit einer bestimmten Neuronenart in Verbindung, den
sogenannten „Spiegelneuronen“. Diese bewirken, dass wir nicht nur die Fähigkeit
haben, sondern auch ein fast zwanghaftes Bedürfnis empfinden, Bewegungen anderer
nachzuahmen. Indem wir das tun – was erst einmal eine bloß motorische Reaktion
ist –, vollziehen wir auch nach, wie die betreffenden Bewegungen des anderen
Lebewesens sich in unserer eigenen Binnenwahrnehmung ,anfühlen‘. Dieser Nexus
ist es, der uns das, was wir an anderen wahrnehmen, auch mitempfinden läßt. Die
Gefühle des Mit-Lebewesens „spiegeln“ sich in uns wider:
Nervenzellen des Gehirns, die im eigenen Körper einen bestimmten Vorgang, zum
Beispiel eine Handlung oder eine Empfindung, steuern können, zugleich aber auch
dann aktiv werden, wenn der gleiche Vorgang bei einer anderen Person nur
beobachtet wird, heißen Spiegelnervenzellen bzw. Spiegelneurone. Ihre Resonanz
setzt spontan, unwillkürlich und ohne Nachdenken ein. Spiegelneurone benutzen
das neurobiologische Inventar des Beobachters, um ihn in einer Art inneren
Simulation spüren zu lassen, was in anderen, die er beobachtet, vor sich geht.
Die Spiegelresonanz ist die neurobiologische Basis für spontanes, intuitives
Verstehen (…). Sie ist nicht nur in der Lage, bei der in Beobachterposition
befindlichen Person Vorstellungen anzuregen, Gedanken und Gefühle hervorzurufen,
sie kann unter bestimmten Voraussetzungen auch den biologischen Körperzustand
verändern.
Diese funktionale Erklärung lässt sich durch Beobachtungen zur Evolution der
Empathie im Verlauf der Bewusstseinsgeschichte ergänzen.
Beginnen wir in der Gegenwart, um dann schrittweise in die Vergangenheit
zurückzugehen. Das Datenmaterial, das heute dafür vorliegt, sind Selbstzeugnisse
von Menschen, die durch das Miterleben der Verletzung und Zerstörung anderer
selbst in (psycho-)pathologische Zustände geraten sind: Soldaten, die an einem
der Kriege der letzten Jahrzehnte teilgenommen haben, etwa am Krieg in
Afghanistan, im Irak oder dem auf den Falklandinseln. Nur von solchen
Kriegsteilnehmern soll die Rede sein, die physisch nicht selbst verletzt wurden,
aber mit der konkret und im Detail wahrgenommenen Verletzung und Tötung von
Kameraden oder Gegnern nicht fertigwurden. Noch eine weitere Präzisierung: Es
sind auch solche Fälle von Traumatisierung bekannt geworden, in denen die
Betroffenen gar nicht selbst an Kampfhandlungen teilgenommen haben, Soldaten,
die im Auftrag der UNO an reinen Friedensmissionen beteiligt waren und dabei
Zeugen von zerstörerischer Gewalt wurden, die sie nicht verhindern konnten. Man
denke an das Kosovo oder an Darfur. Viel wissen wir bisher noch nicht von diesen
durch Identifikation mit anderen erlittenen Beschädigungen. Die Militärmedizin
ist mit der Herausgabe von Daten und Zahlen zurückhaltend. Von den englischen
Teilnehmern am Krieg um die Falklandinseln weiß man immerhin, dass etwa ein
Drittel seelisch krank geworden sind. Die häufigsten Symptome:
Zwangsvorstellungen, Alpträume, Schlaflosigkeit, Depressionen. Eine erschreckend
hohe Zahl an Selbstmorden, noch Jahre danach!
Gehen wir zwei Schritte in der Geschichte zurück, zuerst bis ins 20. und dann
bis ins 19. Jahrhundert.
In den beiden „Weltkriegen“ des letzten Jahrhunderts geschah die Verletzung,
Verstümmelung und Vernichtung von Menschenleben in einem Ausmaß wie nie zuvor in
der Geschichte – und all das wurde in einem entsprechend massenhaften Ausmaß
miterlebt. Aber was haben wir von den erwartbaren Spätfolgen gehört? Kaum etwas.
Dass die Kriegsgeschichtsschreibung, die Militärmedizin und die Psychiatrie
daraus kein Thema gemacht haben, mag noch hingehen. Aber auch in der
Psychoanalyse bzw. der Psychotherapie sind die beobachteten Fälle dieser
speziellen Art von Kriegstraumata, die aus den Weltkriegen herrührten, erst in
neuester Zeit mit einer allgemeinmenschlichen Disposition in Verbindung gebracht
worden.
Und im 19. Jahrhundert? Denken wir an die Metzeleien der Napoleonischen Feldzüge
auf den „Schlachtfeldern“ von Austerlitz, Jena-Auerstätt, Leipzig oder Waterloo.
Wir lesen davon, wie sehr der Tod und das Leiden ihrer Leute die jeweiligen
Feldherrn, angeblich sogar Napoleon selbst, ,schmerzten‘. Aber lesen wir auch,
dass einer der Kriegsherrn davon krank geworden wäre? Napoleon der Gefallenen
und Verletzten wegen schlaflos? Napoleon von Zwangsvorstellungen, Herzrasen,
Schweißausbrüchen befallen? Napoleon in einer Empathie-induzierten Depression?
Von den überlebenden Generälen und Offizieren weiß man nur, dass sie für den
Rest ihres Lebens als Helden verehrt wurden, und können vermuten, dass sie sich
auch so fühlten. Darüber, ob und wie die überlebenden „gemeinen“ Soldaten, wenn
sie dann wieder in ihre Dörfer zurückgekehrt waren, ihr Leben fortsetzten,
wissen wir so gut wie gar nichts. Irrenanstalten, „Irrenhäuser“ gab es, aber
keine Abteilungen speziell für Kriegskranke darin.
Machen wir schließlich noch einen weiteren, jetzt viel größeren Schritt zurück
in die Vergangenheit, bis ins Mittelalter. Fallberichte traumatisierter „Ritter“
oder „Landsknechte“ brauchen wir erst gar nicht zu suchen. Im Gegenteil, es gibt
zahlreiche Quellen, die von öffentlichen Gewaltanwendungen, von Folterungen und
Hinrichtungen erzählen, die nur einen Leidenden kennen, den, der da gefoltert
und hingerichtet wird. Für den „Folterknecht“ und den „Henker“ war das, was sie
da vollzogen, Berufsroutine. Und das Publikum? Die einzelnen Zuschauer? Sie
sahen dabei zu, wie man heute einem Boxkampf zusieht – oder auch nur einem
Fußballspiel, einem Marathonlauf, einem Varieté-Spektakel. Oder einem
Hunderennen? Einem Stierkampft? Hahnenkampf? Wir lesen, dass Mütter ihre Kinder
mitbrachten, um ihnen zu zeigen, wie ein Mensch gehängt, verbrannt, geköpft,
gerädert, gevierteilt, gepfählt oder geschunden, also „gehäutet“ wurde.
Es wäre kurzschlüssig, diese damals so andere Disposition zum Miterleben von
körperlichem Schmerz und Tod eines Mitmenschen als „Rohheit“ zu begreifen.
Kulturgeschichtlich ebenso gut belegt ist andererseits, dass das Mitgefühl, die
pflegerische Zuwendung und Fürsorge bei Schwäche, Leiden, Todesnähe in der
Familie, aber auch in der christlichen Gemeinde, der dörflichen oder städtischen
Gemeinschaft etwa so ausgelebt wurden wie heute. Worin liegt der Unterschied?
Offenbar waren die Menschen, die man bei Hinrichtungen öffentlich leiden und
sterben sah, von dem eigenen Menschsein immer schon abgetrennt, als Verbrecher,
als Hexen, als Ketzer. Sie gehörten nicht dazu. Sie waren nicht in den
Nähebereich, den Identifikationskreis einbezogen. Die Übermacht der herrschenden
,Ideologien‘, der Dogmen und Gesetze, erstickte das Mit-Gefühl im Keim. Der
Einzelne konnte nicht ,eigenmächtig‘ darüber entscheiden, wem Mitgefühl zu
gelten hatte und wem nicht. Er war noch nicht zu seiner Gefühlsautonomie
gekommen. Andersherum ausgedrückt: Die Menschen des Mittelalters erlebten sich
in ihrer Einschätzung untereinander noch nicht immer und ohne weiteres als
gleich, fühlten nicht immer und ohne weiteres mit den anderen. Die
Spiegelneurone, kann man sagen, waren bei ihnen noch nicht so fit, wie sie es
bei uns heute sind.
Die Individuierung und zugleich Verallgemeinerung des Mit-Gefühls, zwei
komplementäre Prozesse, die sich seit der Aufklärung beschleunigt haben, sollen
durch ein Dokument aus der Zeit des Vietnamkriegs belegt werden. Es handelt sich
um eines der Antikriegslieder, entstanden in den USA der siebziger Jahre: „The
Willing Conscript“, geschrieben und vertont von Tom Taxton, berühmt gemacht
durch den Vortrag durch Pete Seeger. Ein „draftee“, ein Kriegsverpflichteter,
spricht zu seinem Ausbilder, dem „sergeant“. Die Szene spielt unmittelbar bei
Eintritt in das Ausbildungslager, das „camp“. Die Tonart: eifrig, lernbereit,
beflissen mit einem Schuss von – hieraus erwächst die Ironie –
Schuldbewusstsein! Der Rekrut bekennt, daß er noch niemals getötet hat: „… I
want to do my duty, but one thing I do implore/ You must give me lessons,
sergeant, for I’ve never killed before.“ Das Töten im Krieg wird gleichgesetzt
mit dem Töten im zivilen Leben. Damit kommt der Kriegsfeind und die Frage nach
der Legitimierung des Tötens überhaupt in den Blick: Ist der Feind nicht auch
Mit-Mensch? Wie stelle ich mich dazu, einen anderen Menschen töten zu müssen?
Die entscheidende Strophe lautet:
Oh, there are rumors in the camp about our enemy.
They say that when you see him he looks just like you and me.
But you deny it, Sergeant, and you are a man of war,
So you must give me lessons, for I’ve never killed before.
Was die „Gerüchte“ im Lager sagen, erscheint – in der Ironie – noch
unterdrückbar, ist es aber längst nicht mehr: Der Kriegsfeind ist zum
Mitmenschen geworden. Das Über-Ich, die Ideologie der Nationalität, beginnt ihre
Macht über das Gefühl des Einzelnen zu verlieren. Die Wahrheit, die sich
durchsetzt: Der Feind sieht nicht nur so aus, als wäre er ein Mensch „wie du und
ich“, er ist es auch.