Mit ihren Straßenschildern stülpt eine
Stadt ihr Gedächtnis nach außen, macht sichtbar, was sie für
erinnerungswürdig hält. In ihrer Gesamtheit gewähren die 1 182 517 Straßen
in Deutschland Einblick in das kollektive Gedächtnis der Nation.
Mit seinen Studenten durchforstete Jung
die Datenbanken und fand, immer noch, faschistoide Namenspatrone auf den
Wegweisern. Was die Lokalpolitiker in den betroffenen Städten den Studenten
dazu zu sagen oder auch nicht zu sagen hatten, kann man hier nachlesen.
Den Leuten im Osten wurde nach dem Krieg
ein sozialistisches Gedächtnis verordnet. Bis heute hat sich dort an der
Straßennamenfront wenig geändert: Ernst Thälmann, Karl Liebknecht und Rosa
Luxemburg beherrschen das Bild. Aber auch im Osten gibt es Entdeckungen zu
machen. Bertolt Brecht, der nach dem 17. Juni 1953 wenig Schmeichelhaftes
über die DDR zu sagen hatte, ist von den Politruks der SED nicht abgestraft
worden. Aber Anna Seghers, die Autorin des Siebten Kreuzes und
langjährige Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR?
Nationalpreisträgerin Seghers war treue Dienerin des SED-Regimes. Aber nur
dank der Generosität des Westens kommt sie zu zählbaren Ergebnissen; im
Osten ist sie unterrepräsentiert.
Vertriebene DDR-Bürger konnten auch
problemlos in die alte Heimat reisen, aber sie durften in der DDR die Namen
ihrer Städte nicht auf die Straßenschilder schreiben. Das blieb denen im
Westen vorbehalten. Heute dienen die 1 120 Danziger Straßen im Westen
als Pfeiler für den europäischen Brückenschlag.
Straßennamen erinnern nicht nur an
Schriftsteller, Soldaten, Maler, Philosophen, Mediziner, Komponisten,
Politiker und Suffragetten, sie verweisen auch auf Flora und Fauna, auf
Flüsse und Städte, auf Berufe und Landschaften, ja sogar auf Märchenfiguren.
Der Straßenname ist eine aktive Quelle,
der man Erkenntnisse nicht erst groß abringen muss. Sie widerspricht im
Einzelfall aber auch dem, was Historiker für gesichert halten. Erich Maria
Remarque gilt als Impulsgeber. Auf Straßenschildern findet man ihn so gut
wie überhaupt nicht.
Ein Buch zum Nachmachen: Die Daten sind
alle in einem Anhang versammelt; eine Bibliographie mit über 350 Einträgen
hilft, das Feld weiter aufzuschließen.
UDO O.H. JUNG
studierte Anglistik und Geschichte, Pädagogik und Philosophie an den
Universitäten Freiburg i.Brsg. und Edinburgh (Schottland). Seine akademische
Laufbahn führte ihn von Kiel über Marburg nach Bayreuth. Er war dort bis
2002 Geschäftsführer des Sprachenzentrums der Universität.